Kriegserklärung der Kämpferin
Auf dem Weltsozialforum in Bombay fordert die Autorin Arundhati
Roy den Krieg der Globalisierungskritiker gegen das Establishment
AUS BOMBAY RAINER HÖRIG
Das Fabrikgelände im Norden von Bombay gleicht einem internationalen
Jahrmarkt. Koreanische Frauen tragen Pappschilder mit Parolen gegen den Irakkrieg,
tibetische Mönche in roten Gewändern halten schweigend Kerzen und Gebetsmühlen
in den Händen, Stammesangehörige der Adivasi tanzen mit Pfeil und Bogen zum
Rhythmus ihrer Trommeln. 50.000 Menschen haben sich vor der Bühne versammelt.
Als die Sonne untergeht, eröffnet die Rockband Junoon aus dem mit Indien
verfeindeten Pakistan das Weltsozialforum (WSF). One world in Bombay.
Die Redner des Abends nehmen auf dem Podium Platz: die iranische
Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, der britische Unterhausabgeordnete
Jeremy Corbyn, der Brasilianer Francisco Whitaker, einer der Gründerväter
des WSF, die 90-jährige Lakshmi Sehgal, die in ihrer Jugend mit der Waffe
gegen die britische Kolonialbesatzung kämpfte. Und Arundhati Roy, 43 Jahre
alt.
Während andere Redner vage "Schwierigkeiten" und "Dissonanzen"
in der globalisierungskritischen Bewegung andeuten, erwähnt die Inderin Arundhati
Roy als Einzige die radikalere Parallelveranstaltung "Mumbai Resistance 2004".
Sie schlägt vor, den Fokus der gemeinsamen Bewegung auf den Krieg im Irak
zu lenken, denn der sei "die Zuspitzung von Imperialismus und Neoliberalismus".
Die Kritik der Radikalen am Weltsozialforum, es sei eine "Quatschbude", nimmt
sie auf: "Es reicht nicht, dass wir im Recht sind. Es reicht nicht, zu sagen,
wir werden sie vertreiben. Wir müssen hier vorankommen, und daher müssen
wir uns auf etwas einigen, und sei es ein noch so kleiner Schritt." Dann
folgt der entscheidende Satz: "Wenn wir wirklich gegen Imperialismus und
Neoliberalismus sind, dann müssen wir nicht nur den Widerstand im Irak unterstützen,
wir müssen selbst zum Widerstand im Irak werden."
Arundathi Roy weiß, was sie da sagt, weiß um die Reaktionen,
die sie mit ihren Worten provoziert. Sie ist Widersprüche gewohnt. Sie wuchs
ohne Vater unter der Obhut ihrer aufgeschlossenen und sozial engagierten
Mutter in einem Dorf im südindischen Kerala auf. Ihr Architekturstudium bricht
sie ab und lebt monatelang mit ihrem Partner als Hippie am Strand von Goa.
Zu Beginn der Neunzigerjahre schreibt die Rebellin einen Roman, der die Liebe
zu einem Unberührbaren beschreibt. "Der Gott der kleinen Dinge" wird ob seiner
ausgeklügelten Erzählstruktur und der tropisch-üppigen Detailschilderungen
von der Kritik hoch gelobt, das Erstlingswerk ein Welterfolg. Als erste Inderin
erhält sie 1997 den britischen Booker-Preis. Bis heute ist "Der Gott der
kleinen Dinge" in vierzig Sprachen übersetzt und weltweit 6 Millionen Mal
verkauft worden.
Im Jahr 1997 reist Arundhati Roy zu Lesungen und Empfängen rund
um die Welt, wird allenthalben umjubelt. In ihrer Heimat Indien erreicht
sie den Status einer nationalen Ikone. Im privaten Gespräch gesteht sie,
sie empfinde den Erfolg als Belastung. Überall werde sie bestürmt und umlagert,
gelegentlich auch belästigt. "Der riesige Erfolg meines Buches hat mich alarmiert",
sagt Roy. "Ich wollte vermeiden, eine verhärtete Kriminelle in dieser von
Ungleichheiten gezeichneten Gesellschaft zu werden. Mir wurde bewusst, ich
müsse zurückgehen und zurückinvestieren in jene Welt, aus der der Gott der
kleinen Dinge hervorging."
Das tut sie hier in Bombay. Scharf geht sie mit der indischen
Regierung ins Gericht und verweist in ihrer Rede auf 80.000 Tote im Kaschmirkonflikt,
2.000 Todesopfer während der pogromartigen Ausschreitungen im Unionsstaat
Gujarat im März 2003. Diese Gewalt könne vielleicht als Rechtfertigung für
einen so genannten "gerechten Krieg" gegen Indien herhalten. Doch solange
Delhi die Märkte öffne, solange amerikanische Konzerne wie Enron und Bechtel
freie Hand hätten, werde der indischen Führung die Verwischung der Grenzen
zwischen Demokratie und Faschismus gestattet.
"Denkt nicht, die Opfer einer Regierung seien nur jene, die
getötet oder eingesperrt werden. In diesem Lande gibt es Millionen von Menschen,
die vertrieben und enteignet worden sind", gibt Arundhati Roy zu bedenken.
"Große Staudämme allein haben in den vergangenen 55 Jahren 33 Millionen Menschen
entwurzelt und ins Elend getrieben." Gemeint ist der Narmada-Staudamm im
indischen Bundesstaat Gujarat, ein gigantisches Projekt mit verheerenden
humanitären und ökologischen Folgen.
Während alle Welt von der gefeierten Autorin erwartet, dass
sie den nächsten Roman schreibt, rebelliert Arundhati Roy immer aufs Neue.
Sie mischt sich ein, wird zur Fürsprecherin derjenigen, die keine Stimme
haben. Sie nutzt ihre Bekanntheit und setzt ihr schriftstellerisches Talent
ein. Das Booker-Preisgeld in Höhe von 20.000 Pfund stiftet sie der Narmada-Protestbewegung.
Sie veranstaltet Lesungen in zahlreichen Städten und ruft zu einem Solidaritätsmarsch
auf, der 1999 hunderte Stadtbewohner ins abgelegene Tal der Narmada führt.
In den Dörfern am Weg wird die Autorin als Retterin gefeiert, mit Blumen
und Gastfreundschaft überschüttet.
Doch ihr Engagement ruft auch Gegenrede hervor. Die Literaturschickeria
rät ihr vom politischen Engagement ab - sie gefährde ihre Reputation als
Autorin. Anhänger politischer Parteien verbrennen öffentlich ihre Schriften.
Einige werfen ihr vor, sie missbrauche die jahrelange Arbeit der Aktivisten
vor Ort, um sich zu profilieren. Der Autor Ramachandra Guha rät der Umweltschutzbewegung
in einem Zeitungsartikel, sich von der angeblich unseriösen Schriftstellerin
zu trennen. In hunderten Leserbriefen solidarisieren sich die Menschen daraufhin
mit Arundhati Roy. "Wenn ich mich in eine solche Sache hineinbegebe, mache
ich mich auf jede Menge persönlicher Beleidigungen gefasst", sagt sie über
diese Auseinandersetzungen. "Da sind viele Leute, die mich beschimpfen. Natürlich
findet hier eine Art Krieg statt."
Nach dem 11. September betritt Arundhati Roy die Bühne der Weltpolitik.
In Essays greift sie die Politik der Vereinigten Staaten an. Sie bedauert
die Leiden der Terroropfer, erinnert aber auch an die Millionen Menschen,
die täglich an Hunger und Elend leiden, und für deren Misere die USA eine
Mitverantwortung trügen.
Im Januar 2003 hält sie während der Weltversammlung der Globalisierungsgegner
im brasilianischen Porto Alegre eine richtungweisende Rede, die in vielen
indischen und internationalen Zeitungen gedruckt wird. Roy wird zum Idol
der weltweiten Bewegung gegen Globalisierung und Imperialismus.
Auch hier und jetzt in Bombay ruft sie ihren 50.000 Zuhörern
zu: "Apartheid ist überflüssig geworden, schließlich gibt es den Internationalen
Währungsfonds, die Weltbank und die Welthandelsorganisation WTO. Und so funktioniert
die Weltwirtschaft: Ein Kleidungsstück, das in einem Land wie Bangladesch
produziert wurde, wird mit zwanzigmal mehr Abgaben belegt als eines, das
aus England oder einem anderen wohlhabenden Land stammt. Nachdem koloniale
Regime die Länder des Südens mehr als fünfzig Jahre lang ausgeraubt haben,
sind die armen Länder heute dazu verdammt, jährlich 382 Milliarden US-Dollar
an eben jene Länder zurückzuzahlen, die sie zuvor geplündert hatten."
Brausender Beifall zeigt, dass Ihre Rede den Nerv der Versammlung
getroffen hat. Zum Schluss setzt die Autorin noch eins drauf und schlägt
eine gemeinsame Abschlussveranstaltung von Weltsozialforum und "Mumbai Resistance
2004" vor. "Dort könnten wir vielleicht zwei amerikanische Konzerne auswählen,
die von der Zerstörung des Irak profitieren. Wir würden dann eine Liste ihrer
Niederlassungen und ihrer Projekte in aller Welt aufstellen und sie einfach
dichtmachen." Der Beifall wird noch lauter, scheint kein Ende zu nehmen.
"Das Weltsozialforum fordert Gerechtigkeit und Überlebenschancen für alle.
Aus diesem Grund müssen wir uns als im Krieg befindlich begreifen!"
Arundhati Roy hat wieder einmal ihre herausragende Position
genutzt, um zwischen den beiden Richtungen der globalisierungskritischen
Bewegung - dem Weltsozialforum und der Gegenveranstaltung "Mumbai Resistance
2004" - zu vermitteln. Als Prominente tritt sie auf beiden Veranstaltungen
auf. Die indische Autorin greift den Slogan des WSF "Eine andere Welt ist
möglich" auf. Dasselbe, nur unter anderen Vorzeichen, denke auch George Bush,
gibt sie dem amüsierten Publikum zu bedenken. Auch Bush und seine Regierung
verfolgten ein Projekt: "Ein neuer Imperialismus schickt sich an, eine aufmüpfige
Welt zu disziplinieren, und die Aufmüpfigen, das seid ihr", ruft sie der
Menge zu.
"Diese Missionare wollen Ordnung statt Gerechtigkeit, wollen
Disziplin auf Kosten der Menschenwürde. Sie streben wirtschaftliche Vormacht
unter allen Umständen an. Zum ersten Mal in der Geschichte verfügt ein einziges
Reich, das genügend Atomwaffen besitzt, um die Welt an einem Nachmittag zu
zerstören, über die unumstrittene wirtschaftliche und militärische Vormacht."
Anderntags spricht sie bei "Mumbai Resistance" vor etwa hundert
Zuhörern. Saddam Hussein müsse sicherlich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
verurteilt werden, sagt Roy. Dann müssten aber auch alle seine "Komplizen
in den USA und Europa" zur Verantwortung gezogen werden.Wenn Hussein es verdient
habe, vor laufender Kamera und zur besten Sendezeit gedemütigt zu werden,
"dann Bush auch".
taz Nr. 7261 vom 19.1.2004, Seite 3, 261 Zeilen (TAZ-Bericht), RAINER HÖRIG, taz-Serie: 4. Weltsozialforum in Bombay (7) taz muss sein:
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