Pune. Straßenblockaden, Angriffe auf Landvermesser, gewalttätige
Scharmützel mit der Polizei: Seit Monaten wird der rohstoffreiche Osten
Indiens durch Proteste gegen neue Industrieprojekte erschüttert. Am 17.
Juni kam es zuletzt zu Straßenschlachten in Nandigram, einer Kleinstadt
in West-Bengalen, wo ein riesiger Chemieindustrie-Komplex entstehen
soll.
Dort
waren im März 14 Menschen, die gegen die Enteignung ihres Landes
protestierten, von Sicherheitskräften erschossen worden. Das tragische
Ereignis löste landesweite Debatten aus und zwang die Regierung, die
Landnahme vorübergehend anzuhalten. Der Volkszorn, der auch in den
Nachbarstaaten Orissa und Jharkhand kocht, blockiert mehr als
einhundert Großprojekte mit einem geschätzten Investitionsvolumen von
50 Milliarden Dollar. Am heftigsten wehren sich die Nachfahren der
Ureinwohner, in Indien Adivasi genannt.
In
sanften Hügelwellen steigt das Hochland von Chota Nagpur südlich der
Gangesebene und westlich von Kalkutta auf. Von der Stadt Ranchi führt
eine Nationalstraße gen Süden, vorbei an Dörfern mit lehmverputzten
Häusern und Missionsstationen. Auf den Feldern herrscht im Juli
Hochbetrieb für die Reisernte. Frauen bücken sich in bunten Saris über
das Getreide und schneiden büschelweise Halme mit goldbraunen Ähren ab.
Chota Nagpur ist Heimat der Munda, Oraon, Santal, Ho und anderer
Adivasi-Völker.
Das Munda-Dorf Kalet ist eine lose Ansammlung
strohgedeckter Lehmhäuser unter alten Mango- und Tamarindenbäumen.
Durch einen kleinen Kanal fließt Wasser aus einem Bach auf die Felder.
Auf dem Dreschplatz trennen Frauen mit Worfeln und Windkraft die Spreu
vom Reiskorn. Am Dorfrand stehen zwei Meter hohe, grob behauene
Hinkelsteine, die Grabmäler der Ahnen. "Alles, was wir besitzen, ist
dieses Land", sagt Dorfhäuptling Marcus Guria. "Auf den Feldern wächst
der Reis. Im nahen Wald sammeln wir Früchte, Kräuter und Brennholz. Das
Land ernährt uns nicht nur - es bewahrt auch unsere Identität, denn es
ist Teil unserer Religion und Geschichte."
Adivasi - das sind so
viele unterschiedliche Ethnien mit eigenen Kulturen und Sprachen. Sie
machen etwa acht Prozent der Gesamtbevölkerung Indiens aus, immerhin
rund 90 Millionen Menschen. In der stark hierarchischen
Kastengesellschaft nehmen die als "Waldmenschen" verspotteten
Ureinwohner einen der untersten Ränge ein. Armut und Hunger sind ihre
Lebensbegleiter.
Das Land der Vorfahren
Adivasi
sind eng mit ihrem Land verwachsen - ökonomisch, historisch,
spirituell. Der Gedanke, Land zu kaufen oder zu verkaufen, ist ihnen
fremd. Marcus Guria erklärt: "Außenstehende verstehen oft nicht, dass
wir nicht Besitzer, sondern nur Verwalter des Landes sind. Die Ahnen
haben uns dieses Land treuhänderisch in die Hände gelegt, und wir
müssen es an die nächste Generation weiter geben. Wie können wir den
Wohnsitz unserer Götter, das Erbe der Vorfahren einfach verlassen oder
verkaufen?"
Mit dem Bau des ersten indischen Stahlwerkes in der
Stadt Jamshedpur legte die Firma Tata 1906 den Grundstein für die
Industrialisierung Chota Nagpurs. Unzählige Kohlegruben und Kraftwerke,
Minen und Stahlschmelzen haben die Region seither zum "indischen
Ruhrgebiet" wachsen lassen. Die Adivasi haben dabei nur verloren. Man
raubte ihnen das Land, zerstörte ihre Dörfer, degradierte sie zu
rechtlosen Kulis. Als Konsequenz kamen mit den neuen Fabriken und
Bergwerken viele Einwanderer in die einst unwegsamen Berge, rodeten den
Wald, übervorteilten die gutgläubigen Stammesleute und schändeten viele
Adivasi-Frauen. Nur wenige Adivasi fanden Arbeit in der Industrie und
wenn, dann nur als Tagelöhner. "Unsere Leute haben für ihr Land nichts
zurückbekommen, sie wurden einfach vertrieben", stellt Ram Dayal Munda,
ehemaliger Rektor der Universität von Ranchi und einer der wenigen
Adivasi-Intellektuellen, fest. "Es ist schwer, diese Lektion zu
verdauen."
Heute löst die Globalisierung einen neuen Sturm auf
die Bodenschätze in Chota Nagpur aus. Die größten Stahlkocher der Welt,
unter ihnen der in London ansässige Inder Lakshmi Mittal, der
koreanische Posco-Konzern sowie das indische Traditionsunternehmen Tata
planen hier Milliardeninvestitionen in neue Minen und Stahlwerke. Aber
die Adivasi haben aus der Erfahrung gelernt. "Sie sind so oft betrogen
worden", meint Ram Dayal Munda. "Nun sagen sie ein klares und lautes
,Nein!'" An zahlreichen Orten der Unionsstaaten Jharkhand, Orissa und
Chhattisgarh leisten Adivasi-Gemeinschaften Widerstand. Sie blockieren
Zufahrtsstraßen zum Projektgebiet, reißen Zäune ein, attackieren
Vermessungsingenieure und Regierungsbeauftragte. Ihre Forderung:
Angemessene Entschädigung und Mitsprache bei der Planung der neuen
Fabriken.
Ausbau der Stahlindustrie
Während
Politiker und Wirtschaftsplaner angesichts der vorgesehenen
Investitionen von einer "neuen, prosperierenden Zukunft" schwärmen,
halten sich Unternehmensvertreter betont zurück. Man bedauert die
Gewalt und wälzt die Verantwortung dafür auf den Staat ab, der für die
Landnahme zuständig ist. Tata-Sprecher Sanjay Choudhury etwa spielt die
weitverbreiteten Proteste herunter: "Das sind Ausnahmeerscheinungen,
die die Vorzüge der Projekte nicht scheitern lassen sollten." Indien
plant, seine Stahl- Produktion bis zum Jahre 2020 auf 100 Millionen
Tonnen pro Jahr zu steigern. Ohne ein Einverständnis der Adivasi werden
diese Pläne kaum zu realisieren sein.