Indien | 24.11.2009

Dunkle Wolken über dem Ganges-Delta

 

Der Klimawandel bedroht die mehr als zehn Millionen Bewohner des Gangesdeltas. Wirbelstürme machen immer mehr Menschen obdachlos. Mit deutscher Unterstützung wurde ein Katastrophenschutzprogramm aufgebaut.

"An diesem Nachmittag blies der Wind immer stärker. Blätter und Äste flogen durch die Luft. Einzelne Wellen überspülten den Deich, bis er schließlich brach und die Flut hereinkam. Die Lehmmauern unseres Hauses hielten der Strömung nicht stand und stürzten in die Fluten. Wir konnten uns gerade noch auf eine höher gelegene Straße retten!"

Bildunterschrift:  Kamal Patra und seine Familie besticken Saris am Straßenrand

Kamal Patra schildert die Ereignisse vom 25. Mai 2009, als der Wirbelsturm Aila über sein Dorf Sibpur im Gangesdelta fegte, mit stoischer Gelassenheit. Dabei hat der Sturm sein Leben auf den Kopf gestellt. Seit sechs Monaten haust der 45-jährige mit seiner sechsköpfigen Familie am Straßenrand, in einer Hütte aus Bambusstangen und Plastikplanen. Sie überleben mit Gelegenheitsarbeiten. Vor wenigen Jahren noch war Kamal Patra ein wohlhabender Bauer. Aber die Küstenerosion und mehrere Wirbelstürme vernichteten seine Äcker. Resigniert schaut er zurück: "Ich werde wohl nie wieder ein Bauer sein."

Bildunterschrift:  Umgestürzte und entlaubte Bäume am Strand von Sibpur

Vernichtete Existenzgrundlage

Kamals Dorf Sibpur liegt am südlichen, dem Meer zugewandten Zipfel der Insel Sagar im Ganges-Delta. Hier tobte der Sturm auf seinem Weg landeinwärts mehr als drei Stunden lang mit Windgeschwindigkeiten bis zu 160 km/h. In ganz Bengalen kamen mehr als 150 Menschen ums Leben, Hunderttausende wurden obdachlos. Zigtausende Menschen zogen auf der Suche nach einer neuen Existenz nach Kalkutta oder in andere Städte.

In Sibpur liegen auch sechs Monate nach Aila weite Landstriche an der Küste brach. Bäume recken blätterlose Äste in den blauen Himmel. Lehmhaufen erinnern daran, dass hier einmal Häuser standen. Ihre ehemaligen Besitzer leben immer noch in  provisorischen Hütten entlang der Straßen.

Bildunterschrift: Neue Deiche sollen das Dorf Sibpur im Gangesdelta vor zukünftigen Fluten schützen

Kampf gegen Flutwellen und Stürme

Tropische Wirbelstürme, sogenannte Zyklone, sind im Ganges-Delta keine Seltenheit. Mehr als zehn Millionen Menschen leben in der weiten Deltalandschaft, die die Riesenflüsse Ganges und Brahmaputra in Bengalen mit ihren Sedimenten bilden. Ein Drittel des Gebietes liegt in Indien, der größere Teil gehört zu Bangladesh. Tausende kleiner und großer Inseln, zweimal täglich überspült von der Flut und von dichtem Mangrovenwald bewachsen. "Sunderbans" nennen ihn die Einheimischen – schöner Wald. Aber erst wenn die Mangroven gerodet und die Inseln durch Deiche vor der salzigen Flut geschützt sind, ist menschliches Leben hier überhaupt möglich. Zwar ist der Boden fruchtbar und es regnet reichlich, aber das Leben der Bauern ist ein ständiger Kampf gegen Flutwellen, Deichbrüche und tropische Stürme. Mit dem Klimawandel werden sich ihre Probleme drastisch verschärfen.

Bildunterschrift: Notunterkünfte am Straßenrand für die Opfer von Aila

"Hier gibt es fast jedes Jahr einen Sturm, aber so verheerend wie Aila war noch keiner", berichtet Arati Dhauria, deren Haus in Sichtweite des Deiches steht und schwer beschädigt wurde. "Ich kann bestätigen, dass die Anzahl und Heftigkeit von Wirbelstürmen im Gangesdelta zunimmt," sagt Prof. Sugata Hazra von der Jadavpur Universität in Kalkutta. "Die Zahl solcher Wetterereignisse ist in den letzten einhundert Jahren um 26 Prozent gestiegen. Wir schätzen, dass bis zum Jahr 2020 mindestens siebzigtausend Menschen im Ganges-Delta obdachlos werden."

Bildunterschrift: Drei Generationen einer Bauernfamilie in Sibpur auf der Insel Sagar im Gangesdelta

Prof. Hazra berät die Hilfsorganisation Rama Krishna-Mission, die seit vierzig Jahren Entwicklungsarbeit im Ganges-Delta leistet. Sozialarbeiter organisieren die Dorfbewohner in Selbsthilfegruppen, die Kredite vergeben, Deiche ausbessern, Bewässerungsteiche für die Landwirtschaft anlegen. Unterstützt von der Deutschen Welthungerhilfe und der Europäischen Gemeinschaft erarbeiteten die Experten der Mission ein Katastrophenschutzprogramm. In vier Dörfern entstanden Frühwarnsysteme, sturm- und flutfeste Zufluchtsorte, vor Flut geschützte Trinkwasserbrunnen. Die Dorfbewohner bildeten Einsatzgruppen zum Reparieren und Instandhalten der Deiche, für Erste Hilfe, zur Frühwarnung und zur Rettung Alter und Gebrechlicher. Beim Tropensturm Aila mussten sich die Maßnahmen zum erstenmal bewähren. "Sieben Stunden vor dem Sturm hörten wir im Radio eine Unwetterwarnung," berichtet die 35-jährige Bäuerin Tapasi Kalsa, die in Sibpur half, Rettungstrupps zu organisieren. "Über Megaphone riefen wir die Menschen auf, sich in Sicherheit zu bringen. Unsere Helfer holten Alte und Behinderte zuhause ab und brachten sie ins Katastrophenzentrum." Obwohl Aila in Sibpur 450 Häuser zerstörte, haben alle Einwohner die Katastrophe überlebt.


Autor: Rainer Hörig
Redaktion: Daniel Scheschkewitz / Esther Broders

 

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