Wahlkampf im Großstadtslum

Frauen in den Slums von Pune, IndienDie Menschen in den Slums von Pune leiden unter der Korruption im Land und bittterer Armut. Foto: Rainer Hörig. All rights reserved.

Die Central Mall zählt zu den größten Einkaufszentren in der 4-Millionenstadt Pune. Schicke Boutiquen bieten hier internationale Mode zu saftigen Preisen an, klimatisierte Cafés laden zum Quatschen und Geschäftemachen ein, feine Restaurants bereiten ausländische Spezialitäten zu. Uniformierte Wachleute kontrollieren die Eingänge und sorgen dafür, dass sich Bettler und arme Schlucker nicht in den Konsumpalast verirren. Die vollklimatisierte Mall ist bei Jugendlichen aus den „besseren“ Familien beliebt, die hier ihre Fantasien von einem modernen, westlich geprägten Lebensstil ausleben können.

Folgt man dem engen Pfad an der Längsseite des Einkaufszentrums weg von der Hauptstraße, betritt man nach wenigen hundert Metern eine ganz andere Welt. Ein Meer ineinander verschachtelter, winziger Häuser und wackliger Hütten breitet sich direkt hinter dem glitzernden Einkaufszentrum aus. Die planlos angelegten Gassen sind gerade so breit, dass zwei Menschen einander passieren können, für Autos ist kein Platz. Mauer an Mauer drängen sich die Wohnungen neben- und übereinander. Ein 10 Quadratmeter großer Raum dient einer vier- bis zehnköpfigen Familie als Zuhause. Eine Gemeinschaftstoilette – meist überfüllt und verdreckt – ist erst nach einem Fußmarsch erreichbar. Auf den wenigen freien Plätzen haben sich Gemüsehändler und Krämer niedergelassen.

Shanusham Waghmare ist eine dunkelhäutige Frau mit kräftigen Armen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann bewohnt die 40-jährige einen blaugetünchten Raum am Rande der Slumsiedlung. Waghmare gehört zu den Ärmsten der Armen. Sie lebt von dem, was andere wegwerfen. Als Müllsammlerin muss sie tagtäglich ums Überleben kämpfen. Selten bekommt sie für die am Tag gesammelten Papierfetzen und Plastikbehälter mehr als umgerechnet einen Euro. Da sie mit jeder Rupie geizen muss, macht ihr die hohe Inflation schwer zu schaffen: „Früher konnten wir immerhin jeden Tag ein bisschen Fleisch essen. Aber heute leisten wir uns nur noch einmal pro Woche ein Hühnchen!“

Waghmare hält sich für eine treue Anhängerin der Regierungspartei Nationalist Congress Party, aber die habe sie nun tief enttäuscht: „Seit Jahrzehnten sitzen die in der Regierung, aber die Dinge, die man zum täglichen Leben braucht, werden immer teurer. Klar gehe ich wieder wählen, aber ich gebe diesmal meine Stimme der Opposition, denn ich will, dass sich die Verhältnisse in unserem Slum und im ganzen Land ändern.“

Der Wunsch nach Veränderung wird gedämpft durch die weitverbreitete Desillusionierung über die Politik im Allgemeinen und die Politiker im Besonderen. Waghmare: "Einige Politiker wollen doch nur Geld machen. Im Wahlkampf machen sie hehre Versprechen, doch nach der Wahl lassen sie sich hier nie mehr blicken!"

Pradeep Jagtap gilt als der politische Guru der Siedlung. Der 40-jährige Zeitungsbote bewohnt mit seiner Frau, zwei Töchtern und einer greisen Mutter ein winziges Haus am zentralen Platz im Slum. Ein einziger Raum zum Kochen, Essen, Fernsehen und Schlafen. "Die meisten Leute hier interessieren sich kaum für Politik. Sie sagen meist, es ändert sich sowieso nichts für uns, warum sollen wir da noch wählen gehen." Aber diesmal sei die Stimmung von einer tiefen Enttäuschung über die amtierende Regierung geprägt, der Wunsch nach Veränderung allenthalben spürbar, berichtet Pradeep Jagtap: "Wir wollen Veränderung, einen politischen Wandel! Das politische Establishment ist in Korruption versunken. Wir brauchen jetzt neue Leute, die die Dinge ändern. Die neue Aam Aadmi-Partei verbreitet bei vielen neue Hoffnung. Vielleicht werden sie irgendwann auch korrupt, aber am Anfang zumindest werden sie es hoffentlich besser machen."

Für Pradeep Jagtap steht die allgegenwärtige Korruption ganz oben auf der Liste von Problemen, die ihn und sein Land plagen. Die Reichen könnten damit gut leben, denn sie kauften sich einfach die nötigen Dienstleistungen von Beamten und Politikern. Für die Armen aber sei Bestechung ein großes Hindernis: "Bei jedem Behördengang muss man die Beamten schmieren. Ohne Schmiergeld dauert die Bearbeitung eines Antrages eine Ewigkeit. Nur wer die Beamten bezahlt, bekommt seine Angelegenheiten geregelt. Aber ich frage mich: Warum soll ich denn überall extra bezahlen, um eine Leistung zu bekommen, die mir rechtmäßig zusteht?"

Die Korruption sei überall, meint Pradeep Jagtap. Alle fünf Jahre jedoch, wenn Wahlkampf ist, werden die Wähler selbst bestochen. Natürlich verspricht jeder Politiker breitere Straßen, mehr Schulen und Krankenhäuser und was sonst noch in das Schlagwort "Development" (Entwicklung) verpackt wird. Darüber hinaus verteilen viele Kandidaten aber am Vorabend der Wahl in den Slums der Städte großzügig Geschenke. "Ja, das ist üblich bei uns, das war eigentlich immer schon so", bestätigt Pradeep Jagtap. Helfer der Kandidaten verteilten Schnaps, Reis mit Fleisch und Geldscheine. Fünfhundert oder auch eintausend Rupien, das sei normal. "Das läuft nachts ganz heimlich ab, aber es geschieht. Woher das Geld stammt, weiß ich nicht, wahrscheinlich ist es Schwarzgeld."

Wahlkampf-Stimmung wie bei einer Rave-Party

Wahlkampf in Indien ist nichts für zarte Seelen. Es geht sehr leidenschaftlich und ungestüm, zuweilen auch ruppig zu. Monotone Trommelschläge und scharfe Parolen heizen die Stimmung auf wie bei einer Rave-Party. Ein Bad in der Menge ist unter diesen Umständen nicht immer ungefährlich. Die Nationalwahlen finden stets in der heißen Jahreszeit statt, weil dann die Arbeit auf den Feldern ruht. Bei Temperaturen um die 40 Grad flammende Reden zu halten, das fällt nicht jedem leicht. Dazu kommen die großen Entfernungen, die insbesondere das Spitzenpersonal der Parteien überwinden muss, um in möglichst vielen Teilen des Landes Eindruck zu hinterlassen.

Bezahlte Parteiarbeiter sorgen in Dörfern und Städten dafür, dass die Kandidaten und ihre Parteien bekannt werden. Bunte Werbeplakate dekorieren Straßen und Plätze. Jugendliche Wahlhelfer veranstalten Auto- und Motorradkolonnen, um mit lauten Parolen und Parteifahnen Werbung für ihre Kandidaten zu machen. Bei dieser Wahl spielen die neuen Medien zum ersten Mal eine bedeutende Rolle. Kandidaten lassen Seiten auf Facebook schalten und Werbematerial über Mobiltelefone verschicken. Immerhin, jeder zweite Inder besitzt ein Mobiltelefon, über 100 Millionen Bürgerinnen und Bürger nutzen den Internet-Treffpunkt Facebook.

Angesichts der enormen ethnischen und kulturellen Vielfalt in der Bevölkerung fällt es den Parteien jedoch schwer, präzise Angaben über ihr Programm zu machen. Die vor den Wahlen veröffentlichten Manifeste erschöpfen sich häufig in Allgemeinplätzen, weil man es allen Recht machen und keine Wählergruppe verprellen will. Für die Armen stehen Inflation und Korruption im Vordergrund des Interesses. Die Jugend wünscht sich bessere Bildungs- und Berufschancen und ein Ende der Korruption. Die Studentin Dakshata Nerula, wie viele ihrer Freundinnen in Jeans und T-Shirt gekleidet und mit einem entwaffnenden Lächeln gesegnet, vermisst das Thema Frauenrechte im Wahlkampf: "Für mich ist die Frauenfrage ein wichtiges Kriterium bei der Wahlentscheidung. Keiner der Kandidaten hat sich damit hervorgetan, für die Sicherheit von Frauen einzutreten. Alle reden von Korruption, aber niemand von den Frauen."

Die Studentin aus gutem Hause, die davon träumt, eines Tages in Deutschland zu leben und daher die deutsche Sprache erlernt, beklagt die männliche Dominanz in der Politik und beschimpft Politiker pauschal als "chauvinistische Schweine". Dennoch ist sie keine radikale Feministin: "Für mich spielt das Geschlecht der Kandidaten keine Rolle. Ich wähle nicht jemanden, nur weil sie eine Frau ist und ich von ihr vielleicht mehr Sicherheit und Schutz erwarten kann. Wenn ein Mann der bessere, ehrlichere Kandidat ist, dann wähle ich ihn."

Während die Armen und die Mittelschicht ein Ende der Korruption fordern, hegen die Wohlhabenden ganz andere Wünsche. Der Großindustrielle Abhay Firodia, ein stattlicher Mann mit weißem Vollbart und einer sonoren Stimme, fordert eine liberalere Wirtschaftspolitik: "Diese Wahl ist eine Entscheidung zwischen Sozialismus und freier Marktwirtschaft. Wir brauchen einen freien Markt. So mancher Politiker schürt Konflikte unter Kasten, zwischen Nord und Süd, zwischen Hindus und Moslems. Die lenken nur von der wichtigsten Frage ab: Wie können wir Indien entwickeln?"

Aus Sicht des Industriellen Firodia, dessen Automobilfirma seit mehr als 30 Jahren mit führenden Herstellern in Deutschland zusammenarbeitet, stellt die allgegenwärtige Korruption nur ein kleineres Übel dar. Die meisten Kandidaten seien sehr wohlhabende Leute, die über genügend finanzielle Ressourcen verfügten, um die hohen Kosten eines Wahlkampfes selbst zu tragen. Sie bräuchten sein Geld nicht, sagt Firodia. Doch er streitet nicht ab, dass Unternehmer auch Politiker bestechen: „Es wäre falsch zu behaupten, dass die Geschäftswelt keine Politiker besteche. Natürlich bezahlen Unternehmer Politiker und Beamte, damit sie neue Projekte genehmigen und der Betrieb weiterlaufen kann. Kein Geschäftsmann will zahlen, doch die Politiker spielen ihre Macht aus. Und sie können uns Schwierigkeiten machen, daher ist es nützlich, sie bei guter Laune zu halten."

Im Zuge der zahlreichen Korruptionsskandale, die in den vergangenen Jahren das Land und die Regierung erschütterten, macht das Schlagwort vom "Kumpel-Kapitalismus", oder Vetternwirtschaft die Runde. Es beschreibt, wie sich Politiker und Unternehmer verbünden, um die Ressourcen des Landes - Eisen- und Kohlevorkommen, Bauland, Mobilfunk-Spektrum u.a. - zum beiderseitigen Vorteil zu plündern. Der Unternehmer Abhay Firodia distanziert sich vehement von solch "schrecklichen" Machenschaften. Als Gegenmittel empfiehlt er die Liberalisierung der Märkte.

Die meisten Bürger betrachten "Kumpel-Kapitalismus" dagegen als persönliche Bereicherung zulasten der Allgemeinheit. Viele fühlen sich betrogen. "Wer regiert eigentlich dieses Land?“ fragt sich Pradeep Jagtap. „Idealerweise sollte doch das Volk regieren, aber in Wirklichkeit hat eine Koalition aus Politikern und mächtigen Wirtschaftsmagnaten das Sagen im Land. Die Regierung tut, was die Bosse wollen, nicht was das Volk will. Daher hat diese Wahl für mich auch nur eine begrenzte Bedeutung."

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