Sonderausgabe INDIEN

Mai 2010

 

Manuskriptabschrift

 

100 Tage Arbeit

 

Im Kampf gegen Hunger und Armut beschließt die Regierung ein Gesetz,

das jedem ländlichen Haushalt 100 Tage bezahlte Arbeit im Jahr garantiert

 

Rajkumar Mudhi ist einer der wohlhabenderen Bauern in Mudhidhi, einem kleinen Weiler im ostindischen Jharkhand. Er bewohnt ein gepflegtes Wohnhaus, in dessen Hof ein Fahrrad steht. Trotzdem reicht es hinten und vorne nicht, klagt der kräftig gebaute Landmann: „Unser Land kann die Familie nicht ernähren. Daher müssen wir auswärts arbeiten. Nachdem die Ernte eingebracht ist, reisen wir jeden Januar ins einhundert Kilometer entfernte Bishnupur, wo es Arbeit in einer Ziegelei gibt. Sechs Monate lang wohnen wir in einer Blechhütte in der Ziegelei. Ich forme Ziegel, die meine Frau Dulali auf dem Kopf zum Brennofen trägt. Die Kinder, naja, die spielen irgendwo abseits.“

 

Am Beginn der neuen Regenzeit kehren die Mudhis heim, um ihre Felder zu bestellen. Das in der Ziegelei verdiente Geld, ein paar tausend Rupien wird laut Mudhi dringend zum Kauf von Saat und Düngemittel benötigt.

 

In den meisten Regionen Indiens regnet es nur während der drei bis vier Monsunmonate. Sind die Felder einmal abgeerntet, bleibt den Bauern nichts anderes übrig, als auf die nächste Regenzeit zu warten, es sei denn, sie verfügen über eine Bewässerungsanlage. Meist sind die Ernteergebnisse schnell verbraucht oder verkauft, sodass in den Trockenmonaten März bis Juni Millionen Männer und Frauen auf Arbeitssuche in die Städte ziehen.

 

Seit 2006 versucht die Regierung mit massivem Aufwand, Arbeitsgelegenheiten in den Dörfern zu schaffen. Das nach dem „Vater der Nation“ benannte Beschäftigungsprogramm „Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Scheme“, kurz MGNREGS, das zunächst in den 300 ärmsten Distriken des Landes gestartet wurde und inzwischen auf das ganze Land ausgedehnt wurde, garantiert jedem ländlichen Haushalt 100 Tage Beschäftigung im Jahr zu Mindestlöhnen. Damit erhalten Kleinbauern und Landarbeiter, Handwerker und Tagelöhner zum ersten Mal ein Recht auf Arbeit, auch wenn nur für drei Monate und am unteren Ende der Lohnskala. Gleichzeitig wird mit ihrer Hilfe die ländliche Infrastruktur verbessert. Neue Straßen werden gebaut, Kanäle, Stauteiche und Bewässerungsanlagen entstehen. In Umfang und Reichweite ist dieses Programm einzigartig in der Welt.

 

Im laufenden Haushaltsjahr 2009/2010 ist das MGNREGS-Programm mit einem Etat von 391 Milliarden Rupien, umgerechnet 6,2 Milliarden Euro ausgestattet. Bislang haben 150 Millionen Menschen einen Berechtigungsausweis, in den die geleisteten Arbeitsstunden eingetragen werden. Allerdings konnten nur 45 Millionen tatsächlich eine Arbeit bekommen. Die 100-Tage-Garantie wurde nur in 6,5 Millionen Fällen tatsächlich umgesetzt. Diese Zahlen sind auf den ersten Blick wenig beeindruckend, aber sie werden jährlich besser.

 

Kritiker vom rechten politischen Lager und aus Wirtschaftskreisen diskreditieren das Arbeitsbeschaffungsprogramm als gigantische Geldverschwendung. Jean Dreze, Wirtschaftswissenschaftler an der Delhi School of Economics, Mitarbeiter von Nobelpreisträger Amartya Sen und einer der geistigen Väter des Programms, verteigt in einem Artikel für das Nachrichtenmagazin Frontline die Errungenschaften: „Langsam aber sicher verändert das Gesetz das Leben der Armen auf dem Lande....Die Löhne steigen, die Arbeitsmigration geht zurück, es entstehen produktive Anlagen und Einrichtungen, die Machtverhältnisse verschieben sich.“

 

Dreze verhehlt nicht, dass das Milliarden-Programm an Korruption und ineffizienter Umsetzung leidet. Er macht dafür in erster Linie die Landesregierungen verantwortlich, die den von Neu Delhi finanzierten und konzipierten Plan umsetzen müssen. Ein Arbeiter beim MGNRGES habe es nicht leicht, schreibt Dreze, er kämpfe mit Mangel an Arbeit, mit verspäteter Auszahlung der Löhne, mit unzureichender Ausstattung des Arbeitsplatzes und gegen Versuche, die gesetzlichen Mindestlöhne zu missachten. Dreze geht mit der ausführenden Bürokratie hart ins Gericht und macht drei Problemfelder aus: Erstens herrsche Verwirrung über die Ausführung der Arbeiten, weil die Richtlinien schwammig formuliert seien. Zweitens gebe es keinen flächendeckenden Beschwerdemechanismus für MGNREGS-Arbeiter, mitdessen Hilfe sie gegen Missbrauch und Korruption bei MGNREGS-Projekten vorgehen könnten. Und drittens fehle eine Evaluierung durch unabhängige Institutionen.

 

Das Arbeitsbeschaffungsprogramm geht auf ein Wahlversprechen der Congress-Partei aus dem Jahr 2004 zurück, als sie mit populistischen und sozialistischen Parolen die konservative Hindupartei BJP überraschend entmachten konnte. Congress hatte eine langjährige Forderung von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Der erste im Dezember 2004 vorgelegte Gesetzentwurf rief vehemente Proteste von NGOs hervor, die im Juni 2005 eine Tour durch 10 Bundesstaaten organisierten, um für einen effektiveren Gesetzentwurf zu werben. Der Erfolg war bescheiden. So fand die Forderung nach universellem Zugang für jede(n) Arbeitswillige(n) statt nur einem Mitglied pro Haushalt in dem im September 2005 vom Nationalparlament verabschiedeten Gesetz keinen Niederschlag. Auch ließ das Gesetz die Machtstrukturen in Dörfern und Behördern, die häufig den Armen Zugang zu Sozialhilfen verwehren, unangetastet.

 

Mit der Arbeitsbeschaffung für 45 Millionen Menschen kann das NREGS-Programm unterm Strich aber als erfolgreiches Experiment verbucht werden. Es mindert die Migration, setzt die Mindestlöhne durch und gibt Frauen zum ersten Mal eine Möglichkeit, ein eigenes Einkommen zu verdienen. Und es kommt tatsächlich auch bei den Bedürftigen an. Nach Angaben des federführenden Ministeriums für ländliche Entwicklung machten Frauen 42 Prozent der Begünstigten aus (Haushaltsjahr 2007/8). Adivasi und Dalits stellten demnach zusammen 57 Prozent aller MGNREGS-Arbeiter. Nach Ansicht politischer Beobachter trug die Popularität der MGNREGS-Arbeitsplatzgarantie maßgeblich zur Wiederwahl der Regierungskoalition um die Congress-Partei im Mai 2009 bei. Längst nicht alle indischen Sozialprogramme sind so erfolgreich.

 

Der einfachste und direkteste Weg, Hunger und Mangelernährung zu bekämpfen, ist die Subventionierung von Lebensmitteln. Bereits seit den 1950er Jahren erhalten Bedürftige Grundnahrungsmittel wie Reis, Weizen oder Zucker zu ermäßigten Preisen. Fast eine halbe Million sogenannter „fair price shops“ wurden dafür eingerichtet. Die Behörden stellen Bedürftigen eine Rationenkarte zum Bezug subventionierter Nahrung aus. Die Karte ist mittlerweile zu einer Art Personalausweis geworden, die bei vielen Behördengängen vorgelegt werden muss.

 

Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass ein nicht unwesentlicher Anteil der für die Armen bestimmten Lebensmittel auf den freien Markt umgeleitet und zu höheren Preisen verkauft werden. Außerdem besitzen längst nicht alle Bedürftigen die wichtige Rationenkarte, während sich viele Mittelschichtsfamilien dieses Privileg erschleichen können. Im Oktober 2007 eskalierte der Zorn der Armen über das ineffiziente System in öffentliche Gewalt. In West-Bengalen und Bihar wurden hunderte „fair price shops“ geplündert oder verwüstet, ihre Besitzer tätlich angegriffen. Berichte der Nationalen Planungskommission, des höchsten Gremiums für die Entwicklung des Landes bestätigen, dass teilweise die Hälfte der subventionierten Nahrungsmittel auf dem Weg vom Lagerhaus zum „fair price shop! verschwinden. Eine 2009 in Neu Delhi durchgeführte systematische Befragung von Slumbewohnern ergab, dass nicht einmal die Hälfte aller Familien eine Rationenkarte besitzen.

 

Witwenpensionen, Ausbildungshilfen für Kinder, verbilligte Lebensmittel, Beratungshilfe für schwangere Frauen, subventioniertes Küchengas – die Liste der Sozialprogramme in Indien ist schier endlos. Politiker nutzen Wohlfahrtsprogramme gern als Wahlversprechen. An der Macht verlieren sie daran dann schnell das Interesse. Trotz eines soliden Wirtschaftswachstums und zahlreicher gutgemeinter Wohlfahrtsprogramme ist die Zahl der Armen in den vergangenen zwanzig Jahren nicht signifikant gesunken. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Viele Programme erreichen ihre Adressaten nicht, weil der Verwaltungsapparat ineffizient, korrupt und verkrustet ist. Die wirtschaftliche Benachteiligung vieler Bevölkerungsgruppen und Minderheiten ist eng mit sozialer Diskriminierung aufgrund von Kaste, Religion und Geschlecht verbunden und damit dem Einfluss der Gesetze weitgehend entzogen. Traditionelle Eliten funktionieren Wohlfahrtsprogramme häufig zu ihrem Nutzen um, wie etwa bei der Verteilung von verbilligten Lebensmitteln. Viele der Bedürftigen kennen ihre Rechte nicht und nehmen die Programme nicht in Anspruch. Viele, die es trotzdem wagen, scheitern an arroganten und korrupten Behörden und umständlichen Verfahren. Die meisten Programme kränkeln auch daran, dass die Zahl der Armen und damit der Beürftigen in Indien höchst umstritten ist.

 

In den frühen Jahren der indischen Republik wurde die tägliche Kalorienaufnahme als Maßstab für Armut verwandt. Später rechnete man die Kalorienaufnahme in Geldbeträge zu üblichen Marktpreisen um. Heute werden auch Wohnverhältnisse, Schulbildung und Arbeitsverhältnisse in die Berechnungen einbezogen. Die Vielzahl an Maßstäben und Berechnungsmethoden erschweren Vergleiche über größere Zeiträume hinweg.

 

Verfechter der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der Globalisierung weisen gerne darauf hin, dass Wirtschaftswachstum auch zur Verringerung der Armut führt. In Indien jedoch klaffen die Zahlen eklatant auseinander. Während das Wirtschaftswachstum in den vergangenen zehn Jahren jeweils zwischen 5 und 9 Prozent lag, hat sich die Zahl der Armen kaum verringert. Anfang dieses Jahres legte die Nationale Planungskommission neue Zahlen vor, die nicht nur Aufwendungen für Nahrungsmittel, sondern auch für Schulbildung und Gesundheitsdienste in die Berechnungen einbeziehen. Wer weniger als 15 Rupien (kaufkraftbereinigt umgerechnet 1,25 US-Dollar) am Tag zum Lebensunterhalt hat, lebt unter der Armutsgrenze. Für 15 Rupien erhält man auf dem Markt nicht einmal ein Kilogramm Reis!

 

Heute leben demnach offiziell 41,8 Prozent der Landbewohner und 27,5 Prozent der Städter, rund 446 Millionen Menschen, in Armut, also landesweit 37,2 Prozent. Die nach derselben Methode ebenfalls neu berechneten Angaben für 1993-94, den Anfangsjahren der Wirtschaftsreform, beträgt 45,3 Prozent. Demnach ist der Anteil der Armen an der Bevölkerung seit der Öffnung der Wirtschaft vor knapp zwanzig Jahren um gerade 8 Prozent zurück gegangen. Die bisherige, auf „Stempelgeld“ orientierte Sozialpolitik war offenbar nicht sonderlich erfolgreich. Doch schon seit einigen Jahren geht die Regierung neue Wege.

 

Nach jahrelangen Kampagnen von NGOs und nach intensiven parlamentarischen Beratungen erlangte im Oktober 2005 das Recht auf Information landesweit Gesetzeskraft. Es gesteht jedem Bürger das Recht zu, staatliche Behörden über ihre Arbeit oder bestimmte Projekte zu befragen und Akteneinsicht zu erhalten. Dieses Recht versetzt die Bürger in die Lage, ihre Interessen besser zu verteidigen und wahrzunehmen zu können und setzt der amtlichen Korruption ein wirkungsvolles Aufklärungsinstrument entgegen. Immer wieder werden Versuche gestartet, das Recht auf Information einzuschränken oder zu unterhölen. Aber eine starke Zivilgesellschaft, verbündet mit wichtigen Politikern, konnte bislang eine Verwässerung des Informationsrechtes verhindern. Insbesondere bei der Überwachung von Arbeitsprojekten nach dem MGNREGS-Programm hat sich das Instrument bewährt.

 

Im Jahr 2002 folgte das indische Parlament einer Vorlage der damaligen konservativen BJP-Regierung und beschloss einstimmig, ein Recht auf Bildung in der Verfassung zu verankern. Spätere Congress-Regierungen unter Premier Manmohan Singh berieten und verwarfen seit 2005 zahlreiche Entwürfe. Erst im August 2009 konnte ein Gesetz zum Recht auf kostenlose Bildung im Parlament verabschiedet werden. Es garantiert jedem Kind im Alter von 6 bis 14 Jahren einen Schulplatz, setzt Standards für staatliche Grundschulen und verpflichtet private Schulen, die dem System der Quotenreservierung für Dalits und Adivasi nicht unterliegen, ein Viertel ihrer Kapazitäten Kindern aus armen Familien zur Verfügung zu stellen.

In den letzten Jahren sind die Lebensmittelpreise in Indien um bis zu 25 Prozent jährlich gestiegen. Besonders für die Armen ist das Angebot erschwinglicher Lebensmittel immer begrenzter. Studien bestätigen, dass die durchschnittliche Kalorienaufnahme, besonders auf dem Land, zurückgeht. Der Hunger wird also nicht weniger, er droht, immer weitere Kreise zu ziehen. Angesichts dieser Gefahr wird zunehmend über ein Recht auf Nahrung debattiert.

 

Obwohl viele Ministerien in der Armutsbekämpfung aktiv sind, hat sich die Lage auch sechzig Jahre nach Inkrafttreten der indischen Verfassung nicht spürbar gebessert. Zwar konnte der prozentuale Anteil der Armen an der Bevölkerung von rund 50 auf jetzt offiziell unter 40 Prozent gedrückt werden. Da aber die Bevölkerung gleichzeitig wuchs, leben heute insgeamt mehr Arme in Indien als zur Zeit der Unabhängigkeit. Alle Wohlfahrtsprogramme zusammen können nicht den Schaden aufwiegen, den die Industrialisierung und Globalisierung in traditionellen Gemeinschaften angerichtet haben und weiterhin anrichten. Vielerorts führen sie zur Verarmung ganzer Bevölkerungs- oder Berufsgruppen, etwa wenn Bergbaukonzerne Dutzende von Adivasi-Dörfer zerstören oder Töpfer, Weber, Schmiede durch billige Importwaren vom Markt verdrängt werden.

 

Das Recht auf Arbeit, auf Schulbildung, vielleicht bald auch auf Nahrung – mit den neuen Programmen zur Bekämpfung der Armut vollzieht Indiens Regierung einen Strategiewechsel. Statt auf kostspielige Subventionen und korruptionsanfällige Förderprogramme zu setzen, wird Hilfe zur Selbsthilfe (empowerment) geleistet und den Armen ein rechtmäßiger Anspruch auf Unterstützung (entitlement) eingeräumt. Vielleicht muss Rajkumar Mudhi eines Tages nicht mehr nach Bishnupur reisen, um in der Ziegelei zu schuften. Und vielleicht kann er eines Tages seine Kinder zur Schule schicken.