Indien
ist ein Land der Widersprüche: Mancherorts prägt Dürre mit ausgedehnten Wüsten
das Land; andernorts gibt es Wasser im Überfluss. Doch das muss nicht sein,
meint jedenfalls die indische Regierung. Mit einem groß angelegten Plan will
sie Flüsse umleiten und die Wasserversorgung in Dürreregionen verbessern.
Am
26. Juli erlebte Bombay, heute Mumbai genannt, eine Sintflut. Ungewöhnlich
starke Regenfälle setzten innerhalb weniger Stunden Straßen, Eisenbahngleise,
Slumkolonien und Apartmenthäuser unter Wasser. Die Stromversorgung brach
total zusammen, alle Mobiltelefone verstummten. 24 Stunden lang stand Indiens
größte Stadt still. Nach offiziellen Angaben starben 736 Menschen.
Zur
selben Zeit litten gut eintausend Kilometer nördlich, in der Wüste von Rajasthan
die Menschen unter einer Dürre. Demonstrierende Bauern, die Wasser für ihre
Felder forderten, wurden mit der ganzen Härte der Polizei konfrontiert. Im
Juni starben fünf Bauern durch Polizeikugeln.
Immer mehr Menschen sind in Indien von Dürren und Überschwemmungen betroffen.
Konflikte um die schwindenden Wasserreserven häufen sich. Die meisten Flüsse
und Seen sind so stark verschmutzt, dass ihr Wasser eigentlich ungenießbar
ist. Fast überall sinken die Grundwasservorräte. Die großen Flüsse im Süden,
Krishna, Godaveri und Cauvery sind bereits so häufig aufgestaut, dass ihre
Mündungen unter Wassermangel leiden. Und in Zukunft benötigt Indien noch
viel mehr Wasser, für neue Stadtviertel und Industriebetriebe, um Lebensmittel
für eine wachsende Bevölkerung zu produzieren. Alle reden von einer drohenden
Wasserkrise und mahnen zum Handeln.
Abhilfe soll ein gigantisches Wasserbauprojekt schaffen, das seit mehr
als zwanzig Jahren im Ministerium für Wasser-Ressourcen untersucht und geplant
wird: die Vernetzung nahezu aller großer Flusssysteme des Subkontinents,
einschließlich des Ganges und des Brahmaputra. Mehr als dreißig große Staudämme
sollen Flutwasser auffangen und, verbunden über schiffbare Kanäle, mehr als
2000 Kilometer weit in den Süden des Subkontinents umleiten. Der pensionierte
Ingenieur M.G. Padhye, der als Staatssekretär im Ministerium für Wasser-Ressourcen
in den achtziger Jahren die Untersuchungen einleitete, erläutert das so genannte
Programm zur Verbindung der Flüsse:
"Wir beobachten, dass der eine Fluss zu viel
Wasser führt, ein anderer dagegen zu wenig, um die Bedürfnisse der Menschen
zu befriedigen. Hier setzt das Projekt an: Im Prinzip halten wir überflüssiges
Flutwasser, das sonst nutzlos ins Meer fließen würde, in Staubecken zurück
und leiten es über Kanäle in Dürregebiete um. Wenn das Projekt erfolgreich
verläuft, werden wir 25 Prozent mehr Wasser zur Verfügung haben und könnten
damit zusätzlich 35 Millionen Hektar Land bewässern."
Kein geringerer als der Präsident Indiens, Abdul Kalam nutzte seine
von vielen Fernsehanstalten übertragene Ansprache zum Unabhängigkeitstag
im vergangenen August, um an die Nation zu appellieren, die Vernetzung der
Flüsse im Eiltempo zu verwirklichen. Eine Woche später unterzeichneten zwei
Unionsstaaten eine Vereinbarung über die Realisierung der ersten Flussumleitung.
Doch viele Kritiker, unter ihnen Wissenschaftler, Umweltschützer, Bauernverbände,
mahnen zur Vorsicht und fordern wissenschaftliche Belege für die Rentabilität
des Programms. Himanshu Thakkar, der in Neu Delhi das Netzwerk South Asian
Network on Dams, Rivers and People leitet:
"Die Vernetzung der Flüsse wird katastrophale
Folgen haben. Sie wird die Flüsse zerstören, außerdem Wälder und Ackerland
vernichten. Millionen Menschen würden vertrieben werden, denn das Programm
benötigt Hunderttausende Hektar Land. Stromabwärts der Dämme wird es zur
Wasserknappheit kommen, zur Versalzung der Böden, zur Konzentration von Schadstoffen
im Flusswasser und schließlich zur Zerstörung der biologischen Artenvielfalt."
Unter den führenden Staudammkonstrukteuren der Welt belegt Indien die
dritte Position. 4291 große Staudämme und die damit verbundenen Bewässerungssysteme
halfen, die Getreideproduktion zu steigern und das ehemalige Hungerland von
Nahrungsmitteleinfuhren unabhängig zu machen. Aber sie entwurzelten nahezu
40 Millionen Menschen und zerstörten vielerorts das ökologische Gleichgewicht.
Heute ruft nahezu jedes neue Staudammprojekt Widerstand unter Anwohnern hervor,
die um ihre Lebensgrundlagen fürchten. Dabei gibt es längst Alternativen.
Der Ingenieur und Staudammkritiker Himanshu Thakkar hat sich ausführlich
mit angepassten, von den Betroffenen selbst verwalteten Bewässerungssystemen
beschäftigt:
"Lokale, traditionelle Wasserbausysteme besitzen
ein gewaltiges Potential für die ländliche Entwicklung. Damit meine ich etwa
Projekte zur Entwicklung von Wassereinzugsgebieten, die in vielen Regionen
Indiens das Leben der Menschen verändern. Auch die Sanierung Tausender Dorfteiche
kann zur Dürrebekämpfung beitragen. Kurzum, wir müssen die Regenfälle an
Ort und Stelle auffangen und speichern und so die Grundwasservorräte wieder
auffüllen."