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Redaktion Weltspiegel/Politik

Brief aus Asien, 30.05.2005

 

Leben im Sumpf – Ein Besuch in den indischen Sunderbans

 

Von Rainer Hörig, Pune

 

 

Mit gleichmäßigem Tuckern gleitet der kleine Kutter durch den Fluss. Strohgedeckte Lehmhütten ziehen vorbei. Wir beobachten spielende Kinder, Kuhhirten und Fischer, die ihre Netze flicken. Vor uns kreuzen pechschwarze, hölzerne Fischerboote, in der Ferne zieht ein riesiges Handelsschiff nach Kolkata. Wir fahren in eines der ausgedehntesten Sumpfgebiete der Welt, die Sunderbans. Das ist Bengalisch und bedeutet "schöner Wald". Eine Idylle ist dieser Gezeitensumpf aber gewiss nicht. Das erste, was ich von dieser Gegend erfahre: "Es gibt hier keine Straßen. In den Sunderbans wird alles auf dem Wasser transportiert."

 

Je weiter wir in diese wundersame, aber harsche Welt vordringen, desto weniger Menschen sehen wir. Nach einer Biegung taucht schließlich der Dschungel auf. Niedrigwachsende Mangovenbäume, Luftwurzeln und Schlingpflanzen bilden ein undurchdringliches Dickicht, das nicht einmal neugierige Blicke einlässt. Sümpfe und unzählige Wasserläufe hüten einen Schatz: den bengalischen Königstiger. Im indischen Teil der Sunderbans sollen noch 250 der seltenen Großkatzen leben.

 

In den Sunderbans ist nichts permanent, alles scheint im Fluss. Die Inseln, von den gewaltigen Flüssen Ganga und Brahmaputra als Schwemmland hier abgelagert, werden durch Sturmfluten und Meeresströmungen wieder abgetragen. Sedimentation und Erosion verändern ständig die Flussläufe und die Form der Inseln. Die Monsunwinde bringen jährlich Sturm und Regenfluten und setzen die Sunderbans drei Monate lang unter Wasser. Wenn dann ein tropischer Sturm das Meerwasser landeinwärts drückt, können Springfluten entstehen, die Tausende von Menschenleben fordern.

 

Jahrhunderte lang kamen nur Jäger und Piraten hier her. Für viele gab es keine Rückkehr. Riesige Krokodile lauern im schlammigen Wasser, aus dem Dickicht des Waldes greifen Tiger an, die trüben Wasserläufe haben gefährliche Strudel und Untiefen. Erst unter britischer Kolonialherrschaft wurden einige Inseln gerodet und besiedelt. Für diese Schwerarbeit heuerten die Briten Unberührbare und Ureinwohner aus den hungerleidenden Regionen im Westen Bengalens an, Menschen also, die nur gewinnen konnten. Bis heute machen diese beiden von der Kastengesellschaft als "unrein" verstoßenen Gruppen die Mehrheit der Bevölkerung in den Sunderbans aus.

 

In den kleinen Siedlungen auf gerodeten Inseln kämpfen die Menschen ums Überleben. Die Launen der Natur machen die Landwirtschaft zu einem unkalkulierbaren Risiko. Das Brackwasser der unzähligen Flussarme ist eher Fluch, denn Segen. Süßwasser ist rar, es steht nur während der drei Monsunmonate ausreichend zur Verfügung. Wer mit den Bauern spricht, erfährt, dass die Reisernte nach dem Monsun nicht ausreicht, um die Familie zu ernähren. Viele beschweren sich über lange und umständliche Transportwege, die verhindern, dass sie ihre Feldfrüchte vermarkten können. Die Wege zum nächsten Krankenhaus seien zu weit und im Dorf fehle eine höhere Schule. Zum Glück springen sogenannte Nicht-Regierungs-Organisationen, abgekürzt NRO's in die Bresche, wo die Regierung versagt. Sie organisieren Spar- und Kreditkooperativen für Bäuerinnen, bringen den Dorfkindern Lieder und Tänze bei, schulen die Bauern in modernen Anbaumethoden. Mein Begleiter Manosh, der die Wasserbehörde verließ, um für eine NRO in den Sunderbans zu arbeiten, gesteht, er lerne von den Dorfbewohnern ebenso, wie sie von ihm.

 

 

 

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