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Deutsche Welle

Redaktion Politik

Brief aus Asien, 26.06.2005

 

Indien und Deutschland – Ein Wechselbad

Rainer Hörig, Pune

 

Eine Reise aus Indien nach Europa – oder auch umgekehrt – kann dieser Tage erleuchtend sein. Während sich im guten, alten Europa Katerstimmung und Hoffnungslosigkeit über sich häufende Probleme ausbreitet, herrscht im noch älteren und mindest ebenso guten Indien Aufbruchstimmung. In Europa verzweifelt man über schrumpfende Budgets und schwindenden Konsum. In Indien dagegen träumen immer mehr Menschen von neuen Fernsehern und einem eigenen Auto. Als Deutscher, der seit sechzehn Jahren in Indien zuhause ist, erfahre ich dieses Wechselbad hautnah und mit gemischten Gefühlen.

 

Seit der Debatte um die Einwanderung indischer Software-Spezialisten vor rund vier Jahren erscheint Indien in Deutschland in einem anderen Licht. Das Armenhaus mausert sich zur Technologiemacht. Deutsche Firmen machen sich die Talente gut ausgebildeter Fachkräfte in Indien zu Nutze, besetzen Positionen auf einem aufstrebenden, riesigen Markt. Ich freue mich, dass meine Wahlheimat nun mehr Aufmerksamkeit genießt. Aber ich glaube auch zu wissen, dass die zuweilen euphorischen Vorhersagen über Indien, die unterschwellig auch vor neuer Konkurrenz warnen, mit Vorsicht zu genießen sind. Denn Indien ist viel komplexer, als es aus der Ferne erscheint. Ein Subkontinent voll unterschiedlicher Kulturen, Religionen, Sprachen, Mentalitäten mit mehr als einer Milliarde Menschen. Prognosen über diese brodelnde Vielfalt sind heikel und führen nicht selten in die Irre. Als etwa vor gut einem Jahr in Indien Wahlen zum Nationalparlament anstanden, waren sich einheimische Wahlforscher und die meisten Journalisten darin einig, das die amtierende Regierung wieder gewählt werden würde. Doch das Volk wollte es anders und jagte Premierminister Vajpayee und seine Hindupartei BJP aus dem Amt.

 

Softwareschmiede Indien: Täglich beobachtet unsere Haushälterin Nirmala, wie ich zuhause am Computer arbeite. Sie spricht mit Verwunderung und Ehrfurcht über die vielen Anwendungen der modernen Rechenmaschinen. Aber wie das alles funktioniert, entzieht sich ihrem Verständnis. Nirmala ahnt jedoch, dass die Computertechnik immer wichtiger werden wird und will, dass ihr Sohn in der Schule mit dem Computer umzugehen lernt. Sie weiß, dass seine Berufsaussichten damit wachsen. Allerdings steht die Familie vor einem schier unüberwindlichen Hindernis: Computer sind für Leute wie sie, und damit die übergroße Mehrheit der indischen Bevölkerung, unerschwinglich. Nirmala müsste dafür mehr als ein Jahresgehalt aufwenden!

 

In Nirmalas winzigen Haus, manche würden es eine Slumhütte nennen, gibt es kein Trinkwasser und nur selten Strom. Ihr Sohn spielt im Schmutz der Straße neben offenen Abwässerkanälen und wird aufgrund der hygienischen Missstände häufig krank. Ob er jemals lernen wird, einen Computer zu bedienen?

 

Die aufstrebende Software-Industrie hat in Indien einige Inseln technischer Exzellenz geschaffen und einer kleinen Minderheit zu neuem Wohlstand verholfen. Sie beschäftigt zur Zeit rund eine Million Menschen - in einem Volk von einer Milliarde! Die Mehrheit der Bevölkerung ist damit beschäftigt, sich um die Versorgung mit Wasser und Strom zu sorgen, Infektionskrankheiten auszukurieren, die Mahlzeit für den nächsten Tag zu sichern. Indien kann nur eine Wirtschaftsmacht werden, wenn es gelingt, die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung entscheidend zu verbessern. Das hängt vor allem vom Willen der Eliten ab, Reformen zuzulassen und auf Privilegien zu verzichten. Und dieser Wille war in der Vergangenheit eher dürftig.

 

Erinnern wir uns: Vor vier Jahren fand in Deutschland eine rege Debatte über die Einwanderung indischer Software-Spezialisten statt. Slogans wie „Kinder statt Inder“ machten die Runde. Die Hysterie war völlig fehl am Platz: Mit der Green-Card fanden nur etwa 3000 Software-Ingenieure aus Indien den Weg nach Deutschland. Dreitausend.