Wahlkampf auf Sparflamme: Die neue Aam Aadmi-Partei

Wahlkampfhelfer der Aam Aadmi Partei in PuneDie Aam Aadmi Partei (AAP) konnte als politischer Neuling viele Anhänger gewinnen. In ihrer Freizeit werben sie – wie hier in Pune – um Wählerstimmen. Foto: Rainer Hörig. All rights reserved.

Per E-Mail wurden wir zusammengetrommelt. Treffpunkt: eine Tankstelle in der Industriestadt Pune, rund 100 Kilometer östlich von Mumbai. Ich treffe auf ein Häuflein junger Leute, die ich anhand ihrer weißen Schiffchenmützen erkenne. Die längsgefalteten Stoffkäppies sind das Symbol der neuen "Partei der einfachen Leute", auf Hindi "Aam Aadmi Party". Der politische Neueinsteiger, der im vergangenen Dezember bei Wahlen in der Hauptstadt Neu Delhi auf Anhieb mehr als ein Drittel der Stimmen bekam, ist die große Unbekannte bei der diesjährigen Parlamentswahl. Niemand traut ihr einen Sieg zu, aber sie besitzt das Potential, den anderen den Triumph zu vermasseln. Da die Aam Aadmi-Partei zum ersten Mal bei nationalen Wahlen antritt, kann niemand wirklich sagen, wie hoch ihre Gewinnchancen sind.

Nach Feierabend um Wählerstimmen werben

Während des Wartens an der Tankstelle lerne ich den Software-Ingenieur Arvind kennen, und Sushil, der Pharmazie studiert, außerdem die Krankenschwesterschülerin Purnima und ihre Freundin Aarti. Sie sind bereit, an ihrem Feierabend eine Slumsiedlung zu besuchen und für die Partei um Wählerstimmen zu werben. Die vier jungen Leute stehen für ein neues Erwachen in einem in politischen Ritualen und Zwängen erstarrten Land.

Mit einer guten halben Stunde Verspätung treffen zwei Parteifunktionäre in fortgeschrittenem Alter ein. Sie bringen Materialien aus dem Parteibüro: einen Tamburin, ein tragbares Megafon, zwei dünne Stapel Handzettel. "Wir haben zu wenig Flugblätter, geht sparsam damit um", weisen sie ihre Helfer an. Dann ziehen wir los. „Der einfache Mann ist erwacht, der korrupte hat die Flucht ergriffen", skandieren die Wahlhelfer und recken ihre Fäuste in die Luft.

Wir biegen von der Straße ab in eine Gasse, die gerade breit genug für zwei Menschen ist. Winzige Häuser, meist nur mit einem Zimmer, säumen rechts und links den Weg. Gelegentlich bleiben einige aus der Gruppe stehen und versuchen die Slumbewohner an ihrer Haustür in ein Gespräch zu verwickeln: "Die Regierung baut Flughäfen und breite Straßen, aber ist das Entwicklung? Wir brauchen Zugang zu Bildung und Gesundheitsfürsorge, das ist Entwicklung, und dafür müssen wir gemeinsam kämpfen.... Wir brauchen keine sogenannten ‚Führer‘, wir von der AAP arbeiten gemeinsam mit den Menschen für Verbesserungen."

Unsere kleine Truppe erntet mehr und mehr Aufmerksamkeit. Die Menschen treten aus den Häusern und beobachten neugierig, aber reserviert den Wahlkampfzirkus. Hunde bellen, einige Kinder begleiten uns jubelnd und schreiend ein Stück des Weges. Meine Bekannte Annu, die das Team leitet, kommentiert: "Die Leute sind politisch sehr aufgeweckt. Sie fragen mich, was wird deine Partei für uns tun? Habt Ihr überhaupt genügend Leute zum  Regieren? Ich sage ihnen, dass diese Wahl eine großartige Chance bietet, die Verhältnisse zu verändern. Wenn wir sie verpassen, wird es die nächsten fünf Jahre so weitergehen, wie bisher."

Wir erreichen einen kleinen Platz inmitten des unübersichtlichen Häusermeers. Gelegenheit für eine Ansprache, die hoffentlich ein paar Zuhörer herbeilockt, so hoffen die Wahlhelfer. Der Redner gibt sich alle Mühe, aber das Publikum verweigert sich, beobachtet aus sicherer Entfernung die Szene. "Es ist an der Zeit, dass wir alle auf die Straße gehen und etwas unternehmen“, fordert der Redner. „Wir müssen zusammen kämpfen, das Land geht durch schwierige Zeiten. Wir, die einfachen Leute, besitzen zwar keine Macht, aber wir haben eine Stimme bei der Wahl, die müssen wir jetzt nutzen!"

Der kleine Platz bleibt weitgehend leer. Nach einer Weile zieht unsere Gruppe weiter. Ich verliere in dem Gassengewirr jede Orientierung. Von Zeit zu Zeit erkundigen sich die Verantwortlichen, in welchem Wohnquadrat wir uns gerade befinden. Offenbar handeln sie nach einem Plan, der möglichst viele Wohngebiete abdecken soll. Nach mehr als zwei Stunden ist das Gebiet abgelaufen, die Wahlhelfer zerstreuen sich bis zum nächsten Termin. Einen kleinen Erfolg können sie schon verbuchen: zwei junge Leute aus dem Slum erkundigten sich nach der Adresse des Parteibüros. Sie wollen sich als Wahlhelfer verpflichten.

Kann man Wähler kaufen?

Mit rund 800 Millionen Wahlberechtigten ist die diesjährige Wahl zum Nationalparlament in Indien die größte Volksabstimmung aller Zeiten. Das Mega-Ereignis stellt die Verwaltung vor gewaltige Herausforderungen. Mehr als 900.000 Wahllokale müssen eingerichtet werden, in einem Land von den geografischen Ausmaßen Westeuropas.

Aufsicht über dieses Mega-Ereignis führt eine dreiköpfige Wahlkommission in der Hauptstadt Neu Delhi, mit Unterkommissionen in allen 28 Unionsstaaten. Sie befehlen über ein Heer von 1,3 Millionen Beamten, die vor Ort die Abstimmung organisieren. Mit der Verkündung des Wahltermins am 5. März trat ein besonderer Verhaltenskodex in Kraft, der jede weitere politische Aktivität, etwa die Verabschiedung von Gesetzen oder die Einweihung großer Entwicklungsprojekte untersagt. So soll verhindert werden, dass die amtierende Regierung das Wahlverhalten durch kurzfristige, unter Umständen kostspielige Geschenke ans Volk zu beeinflussen sucht. Bei gravierenden Verstößen kann die Wahlkommission eine Partei oder einen Politiker von der Wahl disqualifizieren. Doch die haben längst andere Wege gefunden, die Wähler zu korrumpieren, wie Ranjit Gadgil, Bürgerrechtsaktivist in Pune erklärt: "Politische Parteien geben viel Geld aus, um Stimmen zu kaufen. Sie verteilen Bargeld, Lebensmittel, Alkohol, veranstalten sogar Vergnügungsreisen. Die Wahlkommission konnte das leider bislang nicht unterbinden. Aber auf der anderen Seite lassen sich die Wähler davon nicht sonderlich beeindrucken. Die meisten nehmen diese illegalen Geschenke zwar an, treffen Ihre Entscheidung aber nach eigenem Gutdünken."

Dank der Kampagne der neuen Aam Aadmi-Partei gegen die Korruption wird nun vermehrt die Einflussnahme mächtiger Wirtschaftsbosse auf die Politik debattiert, beispielsweise über die Finanzierung von Wahlkampfkampagnen. Der Bürgerrechtler Ranjit Gadgil etwa übt scharfe Kritik: "Die Finanzierung des Wahlkampfs ist in Indien alles andere als transparent. Niemand weiß, wie viel Geld die großen Firmen an Parteien spenden. Natürlich ist da auch sehr viel Schwarzgeld im Spiel. Ohne klare gesetzliche Regeln ist eine Kontrolle aber sehr schwierig. Die Wahlkommission setzt zwar für Wahlkampfausgaben eine Obergrenze fest, aber viele Spenden werden unter der Hand vergeben."

Volksbewegung gegen die Korruption

Vor zwei Jahren bewegte eine Kampagne gegen die Korruption das Land. Hunderttausende Menschen strömten zu Kundgebungen in den Großstädten, wo der Bauer Anna Hazare und sein Stratege Arvind Kejriwal flammende Reden gegen die allgegenwärtige Korruption hielten. Zuvor war in mehreren millionenschweren Skandalen die Kumpanei zwischen mächtigen Industriellen und hohen Politikern ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Hazare’s und Kejriwal’s energischer Versuch, das Parlament zur Verabschiedung eines weitreichenden Gesetzwerkes zur Aufdeckung und Kontrolle von Korruptionsaffären zu bewegen, scheiterte. Die beiden Protagonisten der Bewegung trennten sich. Anna Hazare zog sich in sein Heimatdorf nahe der Millionenstadt Pune zurück, während Arvind Kejriwal die Aam Aadmi-Partei ins Leben rief. Er übernahm die markante, weiße Kopfbedeckung des ex-Kumpels als sein Markenzeichen und versah sie mit dem Schriftzug: Ich bin ein einfacher Bürger.

In Pune, der Heimat Anna Hazares, kandidiert der Pharmazeut Subhash Ware für die neue Anti-Partei. Er blickt auf eine langjährige Mitarbeit in der sozialistischen Initiative Rashtriya Seva Dal zurück, die sich für die Interessen der sozial Schwachen einsetzt. Dem schmächtig gebauten Mitt-Fünfziger fiel es nicht leicht, mitten im Wahlkampf Zeit für ein Interview zu finden: "Mein Wahlkampf wird ausschließlich durch private Spenden finanziert. Es reicht hinten und vorne nicht, aber wir müssen auch sichtbar sein. Wir können keine Großveranstaltungen organisieren, wie unsere finanzkräftigen Rivalen. Doch die Menschen unterstützen uns tatkräftig."

Anstatt auf ein pralles Bankkonto stützt Subhash Ware seine Kampagne auf den Enthusiasmus seiner Helfer. In der Gesellschaft fände eine Revolte statt, viele Menschen erwachten aus jahrelanger politischer Apathie, meint der Kandidat: "In diesem großen Land eine neue Partei aufzubauen, ist eine gewaltige Aufgabe. Aber wir wachsen aus dem Volk. Schon während der Bewegung gegen die Korruption kamen tausende von jungen Leuten auf die Straße, um uns zu unterstützen. Jetzt kommen viele zu uns, um beim Wahlkampf zu helfen. In der Jugend und in der Mittelklasse gibt es ein neues politisches Erwachen. Das ist die Grundlage unseres Erfolgs."

Die meisten Wähler stehen der neuen Partei skeptisch gegenüber. „Wird sie denn überhaupt politische Verantwortung übernehmen können?“, fragen sich viele. „Die Partei kämpft gegen Korruption, aber wie wird sie sich in der Wirtschafts- oder Außenpolitik positionieren?“, wundern sich andere. In der Tat hat der politische Neuling in vielen aktuellen Fragen keine Position bezogen, sein Wahlprogramm bleibt stellenweise schwammig und floskelhaft. Der Kandidat Subhash Ware versucht im Gespräch, Zweifel an der Reichweite und der politischen Reife seiner Partei zu zerstreuen: „Zugegeben, die Anti-Korruptionsbewegung war hauptsächlich von der Mittelklasse getragen. Aber nach Gründung der Aam Aadmi-Partei stoßen auch viele Aktivisten zu uns, die über eine starke Basis auf dem Land verfügen. Sie bilden unsere Wurzeln in der ländlichen Gesellschaft und tragen zu unserer Meinungsbildung bei. Da ist etwa Medha Patkar, die als Organisatorin der Protestbewegung gegen die Narmada-Staudämme landesweit bekannt wurde. Sie kandidiert für unsere Partei in Mumbai. Auch in anderen Teilen Indiens schließen sich Aktivisten des Netzwerkes National Alliance of People’s Movements unserer Partei an. Über sie sind wir in zahlreichen ländlichen Regionen präsent. Unsere Partei mag sehr jung sein, doch viele Mitglieder verfügen über reichlich Erfahrung. Meine Freundin Medha Patkar und ich sind seit mehr als 30 Jahren in der Politik!“

In Pune und auch anderswo hofft die neue Partei vor allem auf die Stimmen der Armen. Daher konzentriert sie ihre Wahlwerbung auf die städtischen Slums. Für die meisten Slumbewohner liegen die großen Themen der Politik, wie etwa die Liberalisierung der Wirtschaft oder die Rivalität mit dem Erzfeind Pakistan in weiter Ferne. Den Armen machen vor allem die hohe Inflation und die allgegenwärtige Korruption das Leben schwer. Dafür hat der Kandidat Subhash Ware ganz volksnahe Lösungen parat: „Ich will mich vornehmlich den Problemen dieser Stadt widmen: Die städtischen Schulen müssen besser werden, die öffentlichen Hospitäler ebenfalls. Schulbildung muss für alle Menschen kostenlos zugänglich sein, ebenso eine gute Gesundheitsversorgung. Der öffentliche Nahverkehr muss dringend verbessert werden. Wir wollen die Müllbeseitigung dezentralisieren, gemeinsam mit den Bürgern der Stadt. Die sollen mehr Verantwortung übernehmen und mitbestimmen können. Außerdem müssen wir dringend eine Reform der Polizei angehen. Die meisten Polizisten stehen unter erheblichem Stress. Wir wollen sie entlasten und für Frauenrechte sensibilisieren, damit die Bürger sich wieder sicher fühlen können. Dies sind unsere Prioritäten!“

 

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"Indien im Wahljahr – Aufbruch oder Stagnation?".

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