Indien gegen den Klimawandel
Delhi will Gerechtigkeit
Die indische Regierung fordert von den Industrieländern mehr Klimaschutz. Dafür verspricht sie mehr Energieeffizienz.

Delhi plant, Indiens Kohleförderung bis 2020 auf 1,5 Milliarden Tonnen pro Jahr zu verdoppeln.
Foto:
ap
PUNE taz | Neigt sich in
Delhi der Tag dem Ende, versinkt die Sonne im grauen Dunst am Horizont.
Die Straßen sind verstopft, oft kommt der Berufsverkehr zum Stillstand.
Jetzt im Winter flackern überall kleine Feuer auf, an denen sich
Straßenhändler, Taxifahrer und Obdachlose wärmen. Die Abgase unzähliger
Kraftfahrzeuge, Hinterhoffabriken und Kochstellen belasten mit dem Staub
der nahen Thar-Wüste Indiens Hauptstadt. „Das trifft vor allem die
Kinder“, klagt die Lehrerin Madhu Bhatnagar. „Immer mehr Kinder leiden
unter Allergien oder Atembeschwerden wie Asthma.“
Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft
Delhi als eine der am stärksten verschmutzten Metropolen der Welt ein.
Unter den 100 Städten mit der weltgrößten Luftverschmutzung listet die
WHO 25 Städte in Indien auf. Am Dienstag vergangener Woche wurden in
Delhi Feinstaubwerte (PM 2,5) von bis zu 250 Mikrogramm pro Kubikmeter
gemessen. Ein Wert ab 25 gilt als gesundheitsschädlich.
Am Wochenende kündigte Delhis
Stadtregierung drastische Maßnahmen an: Privat-Pkw dürfen bald nur noch
jeden zweiten Tag fahren, je nach gerader oder ungerader Endziffer auf
dem Nummernschild. Lkw dürfen nur noch nachts durch die Stadt fahren,
zwei Kohlekraftwerke im Stadtgebiet sollen die Produktion einstellen,
dabei sind Stromausfälle bereits alltäglich.
Derweil steht die südliche
Viermillionen-Metropole Chennai (Madras) nach sintflutartigen
Regenfällen unter Wasser. Am vergangenen Mittwoch fielen dort bis zu 500
Millimeter Niederschlag, soviel wie sonst im ganzen Monat Dezember. Der
Nahverkehr steht still, Schulen, Behörden, Geschäfte und sogar der
Flughafen mussten dichtmachen. Mehr als 400 Menschen sind bisher
gestorben, darunter 14 Patienten in der Intensivstation eines
Krankenhauses, bei dem selbst die Notfallgeneratoren im Wasser
versanken.
Der Klimawandel ist längst angekommen

Der
Erde droht der Hitzekollaps. Deshalb wollen die Staatschefs der Welt
Anfang Dezember in Paris einen globalen Klimaschutz-Vertrag vereinbaren.
Die taz berichtet vom 28. November bis zum 14. Dezember 2015 täglich auf vier Seiten in der Zeitung und hier auf taz.de.
Indiens Ministerpräsident Narendra Modi
macht den Klimawandel für Chennais heftigste Regenfälle seit mehr als
100 Jahren verantwortlich. Für Umweltminister Prakash Javadekar sind die
Industrieländer schuld. Dies sei das „Ergebnis dessen, was seit 150
Jahren in der entwickelten Welt passiert ist. Dies hat den
Temperaturanstieg von 0,8 Prozent verursacht“, sagte er am Samstag der
Zeitung The Hindu, bevor er zum Klimagipfel nach Paris
aufbrach. Umweltschützer wie Sunita Narain vom Center for Science and
Environment in Delhi, eine der führenden Umweltorganisationen Indiens,
verweisen allerdings darauf, dass ein ungeplanter Bauboom die
Katastrophe verschärft hat.
Auch im nordöstlichen Bengalen, wo die
Riesenflüsse Ganges und Brahmaputra das Sunderbans genannte weltgrößte
Flussdelta schufen, ist der Klimawandel längst angekommen. „Wir
beobachten, dass die Zahl und Heftigkeit von Wirbelstürmen zunimmt“,
sagt Professor Sugata Hazra von der Jadavpur Universität im nahen
Kolkata. „Die Zahl solcher Wetterereignisse ist in den letzten hundert
Jahren um 26 Prozent gestiegen. Wir befürchten, dass im Gangesdelta bis
zum Jahr 2020 mindestens 70.000 Menschen obdachlos werden.“
In Folge des Klimawandels fallen die
lebensnotwendigen Niederschläge des Monsuns immer unregelmäßiger und
heftiger aus. Die Folgen müssen vor allem die Armen tragen, die ihren
Lebensunterhalt durch Nutzung von Naturressourcen bestreiten. Bauern
erleiden Ernteeinbußen, Küstenbewohner verlieren ihre Heimat. Die
wohlhabenderen Menschen in Delhi und anderen Städten dagegen
installieren Luftreiniger in ihren Wohnungen und nehmen Kredite für neue
Autos auf.
Dank der Pariser Konferenz genießt das
Klima-Thema dieser Tagen hohe Aufmerksamkeit in Indiens Medien. Die
Präsentation der neuen Solarallianz durch Premierminister Modi in Paris
dominierte die Titelseiten. Indiens große Blätter und TV-Kanäle sind mit
eigenen Korrespondenten in Paris dabei. Im politischen Alltag spielt
der Klimawandel jedoch meist keine große Rolle. Viele Inder halten ihn
für ein Ereignis, das sich in der Zukunft an fernen Orten wie dem
Nordpol abspielen soll. In Indien habe es doch schon immer Fluten und
Dürren gegeben, ist häufig zu hören. Vor allem sei der Klimawandel doch
ein Problem der reichen Industrieländer. Sie seien für die Schadstoffe
in der Atmosphäre hauptverantwortlich, daher müssten sie nach dem
Verursacherprinzip dafür geradestehen.
Der Wohlstand der Industrieländer
Als ein selbst ernannter Sprecher der „sich
entwickelnden Länder“ fordert Indien „Klimagerechtigkeit“. „Die
Gerechtigkeit verlangt, dass es mit dem bisschen Kohlenstoff, den wir
noch sicher verbrennen können, den Entwicklungsländern erlaubt ist, zu
wachsen“, sagte Modi bei seiner Rede in Paris. Die Industrieländer seien
durch ihre klimaschädlichen Emissionen seit Beginn der
Industrialisierung vor 150 Jahren zu Wohlstand gelangt, die Folgen
müssten jedoch heute vor allem die ärmeren Länder des Südens wie Indien
tragen. Diese hätten also einen Anspruch darauf, für die Folgen des
Klimawandels entschädigt zu werden.
„Wir erwarten von den Industrieländern,
dass sie ihre Emissionen senken, denn wir müssen unsere erhöhen, damit
sich unsere Wirtschaft entwickeln und die Armut bekämpft werden kann“,
meint etwa der indische Klimaforscher Rajendra Pachauri, langjähriger
Vorsitzender des Weltklimarates IPCC.
Unter den größten Klimasündern belegt
Indien zur Zeit den dritten Platz – mit großem Abstand zu den USA und
China. Vehement reklamiert die Regierung bei internationalen
Verhandlungen gleichwertige Quoten von „Verschmutzungsrechten“ für jeden
Erdenbürger. Wissenschaftler ermittelten, dass bei der gegenwärtigen
Zahl der Erdbewohner jeder jährlich bis zu 2 Tonnen klimaschädliche Gase
CO2-Äquivalent produzieren könnte, ohne dass das Klima dadurch zu Schaden käme.
Ein Bürger Indiens ist statistisch für 1,5 Tonnen CO2
jährlich verantwortlich, ein US-Amerikaner dagegen für 12 Tonnen, ein
Deutscher für 5. So gesehen hätte Indien noch viel Raum, seine
Emissionen zu steigern. Andere Länder müssten dafür deutlich kürzer
treten, um das Weltklima nicht zu schädigen. Seit Beginn der
internationalen Klimaverhandlungen weigert sich Indien, eine
Emissionsobergrenze festzulegen. Die Regierung fürchtet, eine solche
könnte das Wirtschaftswachstum behindern. Delhi plant nämlich, Indiens
Kohleförderung bis 2020 auf 1,5 Milliarden Tonnen pro Jahr zu
verdoppeln. Rund 70 Prozent der Elektrizität wird heute durch die
Verbrennung billiger einheimischer Kohle gewonnen. Und dabei sind rund
300 Millionen Menschen noch gar nicht an das Stromnetz angeschlossen.
Delhi zeigt sich kompromissbereit
Zwar gehört Indien zu den Vorreitern bei
der Nutzung von Wind- und Sonnenenergie. Aber selbst der verkündete
Ausbau erneuerbarer Energien von heute 37 Gigawatt auf 175 Gigawatt bis
zum Jahr 2022 wird die Dominanz der Kohle kaum mindern. Indiens Ausstoß
klimaschädlicher Gase wird vielmehr nach Meinung unabhängiger Experten
von heute knapp 2 Milliarden Tonnen auf 5 Milliarden im Jahr 2030
wachsen.
Aber Delhi zeigt sich auch
kompromissbereit: „Wenn wir Hilfen für kostenintensive grüne Energien
erhalten, können wir den Verbrauch von Kohle entsprechend einschränken“,
versprach Indiens Verhandlungsführer Ajay Mathur vergangene Woche in
Paris. Im Vorfeld der Klimakonferenz gab Indien neue Klimaziele bekannt,
die selbst einheimische Kritiker als ambitioniert bezeichnen. Die
Regierung will den Anteil „nichtfossil erzeugter Energie“ an der
Primärenergieerzeugung von heute rund 13 Prozent auf 40 Prozent im Jahr
2030 steigern. Der Begriff „nichtfossile Energien“ umfasst aber auch
Atomkraftwerke und große Staudammprojekte, die umweltpolitisch
umstritten sind.
Um einen Teil der klimaschädlichen
Emissionen zu neutralisieren, plant Indien ein massives
Aufforstungsprogramm. Neue Kohlenstoffsenken sollen bis 2030 zusätzlich
bis zu 3 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent
absorbieren. Indien verspricht auch, die Energieeffizienz seiner
Wirtschaft um 35 Prozent gegenüber dem Jahr 2005 zu erhöhen. Dafür sind
große Investitionen in moderne Technik nötig. Daher fordert Indien mit
dem Verweis auf „Klimagerechtigkeit“, dass die Industriestaaten die
Länder des Südens mit Milliardenhilfen sowie Technologietransfer
unterstützen.
Skepsis ist jedoch angezeigt, ob und wie
weit Indiens ehrgeizige Ziele realisierbar sind. Für die Aufforstung und
den Ausbau erneuerbarer Energien etwa werden große Landflächen
benötigt. In dem dicht besiedelten und von massenhafter Armut
gekennzeichneten Land stehen jedoch kaum ungenutzte Flächen zur
Verfügung. „Es ist doch scheinheilig, von Aufforstung zu sprechen, wenn
gewachsene, natürliche Wälder im Namen des Fortschritts vernichtet
werden“, kritisiert Ashish Kothari, Mitbegründer der Umweltorganisation
Kalpavriksh. „Für Bergwerke, Bewässerungs- und Infrastrukturprojekte und
neue Siedlungen wird immer mehr Wald vernichtet.“