Adivasi

Jahrhunderte der Diskriminierung

Alljährlich im März feiern die Bhil das Holi-Fest. In einem großen Feuer verbrennen sie ihre Sorgen.

In Indien kämpfen die Ureinwohner der Adivasi für ihre Rechte – und um das Überleben ihrer Kultur.

Von der Universitätsstadt Vadodara im Süden des Staates Gujarat führt eine gut ausgebaute Landstraße ostwärts ins Zentrum des Subkontinents. Die Fahrt durch die goldbraune Savannenlandschaft bietet reichlich Abwechslung: Ziegelgedeckte Bauernhäuser, vor denen weiße Zugochsen in der Sonne dösen, Flussläufe, in deren sandigen Betten junges Gemüse reift, hin und wieder ein grünes Getreidefeld. Das ist das Land der Bhil, mit rund 15 Millionen Menschen das größte Stammesvolk Indiens. Sie zählen zu den Adivasi (Hindi: erste Siedler), die gemeinsam mit den Unberührbaren, den Dalits, zu den Ärmsten in Indien gehören.

Im Mittelalter waren die Bhil als gute Bogenschützen und raue Burschen bekannt, die gelegentlich einsame Gehöfte überfielen und kleinere Siedlungen plünderten. Mehrmals erhoben sie sich gegen die britischen Kolonialherren, mussten sich jedoch militärisch geschlagen geben. Heute leben die meisten Bhil als Kleinbauern von den Früchten der steinigen Erde. Im Frühjahr, wenn die Arbeit auf den Feldern ruht, zieht es viele in die Städte, wo sie als Hilfsarbeiter auf Baustellen eine harte und schlecht bezahlte Arbeit verrichten. Im März versammeln sie sich zu Hause zum Holi-Fest; Trommeln dröhnen durch die Nacht, am frühen Morgen tanzen sie um ein großes Feuer und verbrennen darin die Sorgen des alten Jahres.

Rund 120 Kilometer östlich von Vadodara führt ein unscheinbarer Weg von der Landstraße zu einem mehrere Hektar großen, von einer Ziegelmauer umgebenen Gelände. Das Tor ist unbewacht, jeder ist hier willkommen. In mehreren langgestreckten, schlichten Ziegelbauten ist die Adivasi-Akademie untergebracht, ein Zentrum für die Kulturen von Adivasi-Völkern. Der Linguist Ganesh Devy, ein früherer Universitätsprofessor, der jahrelang in Adivasi-Dörfern gelebt hat, hatte die Idee dazu. „Damals beschäftigte ich mich mit dem Leben des britischen Ethnologen Verrier Elwin, der die Ansicht vertrat, man solle die Adivasi-Gemeinschaften möglichst unberührt lassen, damit sie sich nach eigenem Gutdünken fortentwickeln könnten.“ Die Gegenposition lautete, man müsse die Adivasi in die Gesellschaft integrieren. „Ich wunderte mich, warum niemand die Adivasi fragte, was sie selbst sich wünschten.“

Ganesh Devy tat genau das: Er erkundigte sich bei Nachbarn und Freunden, wie sie sich ein gutes Leben vorstellten. „Sie sagten, ihr Dorf solle keine Kopie irgendeiner Stadt werden, aber frei sein von der Tyrannei und der Ausbeutung privater Geldverleiher, frei von Hunger, frei von Krankheiten, die nicht rechtzeitig behandelt werden könnten.“ Zudem wollten sie eine Schule besuchen können – und sie wollten nicht länger in die Stadt gehen, um dort zu arbeiten. Mithilfe von Mikrokredit-Kooperativen drängte Devy den Einfluss der Geldverleiher zurück, baute Schulen und Gesundheitsstationen auf und gründete 1999 in der Nähe des Ortes Tejgadh die Adivasi-Akademie.

Narayan Ratwa leitet das Museum der Adivasi-Akademie in Tejgadh. Rainer Hörig
Die Akademie bietet Diplom-Kurse in Kultur, Medien, Entwicklung und anderen Fächern, die für die Adivasi relevant sind. Sie ist außerdem Treffpunkt für Künstler und Kunsthandwerker, Forscher und Lehrer. In ihrer Bibliothek und ihrem Museum sind Kulturzeugnisse aus vielen Adivasi-Gemeinschaften Indiens zu sehen: Trommeln, Jagdwaffen, Ahnenbilder und Götterstatuen, Kleidungsstücke, Schmuck. Museumsdirektor Narayan Ratwa ist selbst Adivasi, er wurde hier ausgebildet. „Wir haben unsere eigene Sprache, unsere eigene Kunst, einen eigenen Lebensstil und eine besondere Wirtschaftsweise. Diese Kultur wollen wir hier einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen“, erklärt er.

Viele Adivasi-Dörfer werden heute von Händlern, Beamten und Touristen besucht. Die modernen Medien transportieren Bollywood-Schlager direkt in die Wohnhäuser. „So geraten die eigenen kulturellen Errungenschaften zunehmend in Vergessenheit“, mahnt Ratwa. Die Akademie dagegen sammelt traditionelle Lieder verschiedener Adivasi-Gemeinschaften und veröffentlicht sie auf CDs, die kostenlos in den Dörfern verteilt werden. Ein wirksames Gegenmittel gegen die kulturelle Übermacht, meint der Museumsleiter: „Mit unseren CDs machen wir die traditionelle Musik wieder attraktiv. Die Jugend identifiziert sich damit, schließlich ist das ihr ureigenes Kulturgut. Unsere CDs werden sogar während Hochzeiten gespielt, und die Leute tanzen dazu.“

Mitunter ist auch wirtschaftliche Not dafür verantwortlich, dass liebgewonnene Traditionen aufgegeben werden. Der Brauch, an bestimmten Festtagen eine Holzfigur für die Ahnen an einem geweihten Ort aufzustellen, gerät zunehmend in Vergessenheit, weil viele Familien die Kosten scheuen. Die traditionellen Holzschnitzer verlieren ihr Einkommen. Narayan Ratwa erzählt, wie es gelang, diese Kunst wieder zu beleben: „2001 gab es nur einen Schnitzer, der die traditionellen Holzstatuen herstellte, Gulsinghbhai. Wir luden 40 talentierte junge Adivasi ein, die er bei einem Workshop unterrichtete. Heute gibt es wieder rund 45 Künstler, die vom Statuenschnitzen leben können.“ Das können sie jedoch nur, wenn sie für ihre Werke einen Markt finden. Die Akademie verschafft ihnen Zugang zu  Ausstellungen und Straßenmärkten.

Einer von Gulsinghbhais Schülern stellt seine Werke mittlerweile in Galerien im ganzen Land aus und erzielt gute Preise. Er besitze besonderes Talent, meint Ratwa: „Bhalubhai hat sich von der Tradition ein Stück weit gelöst und lässt seiner Phantasie freien Raum. Dadurch erreicht er neue Kunden.“ Ratwa lässt aus der Sammlung des Museums eine blankpolierte Holzfigur kommen, die einen Cricket-Spieler mit Ball und Schläger darstellt. Die Figur zeichnet perfekt die Bewegung und Haltung eines Sportlers nach. Bhalubhai habe neulich eines seiner Werke an die Universität von Cambridge in Großbritannien verkauft, berichtet Ratwa stolz.

Ein Bhil-Mädchen bereitet Fladenbrot zu. Viele der Adivasi-Völker leben unter einfachsten Bedingungen. Rainer Hörig
In Indien leben 698 Volksgruppen, die amtlich als „Scheduled Tribes“ registriert sind. Sie selbst bezeichnen sich lieber als Adivasi, um ihren Anspruch als ursprüngliche Einwohner zu unterstreichen. Mit einem Bevölkerungsanteil von 8,6 Prozent zählen sie nach offiziellen Angaben rund 105 Millionen Menschen. Die größten Völker wie Bhil, Gond und Santal sind viele Millionen Menschen stark. Die Jarawa und Onge auf den Andamanen-Inseln umfassen dagegen nur wenige hundert Individuen. Sie sind vom Aussterben bedroht.

Adivasi sind die Nachfahren der indischen Ureinwohner, die schon vor der Invasion von Hirtenvölkern aus Zentralasien den Subkontinent besiedelten. Es wird angenommen, dass die indogermanischen Nomaden von 1500 bis 1000 vor Christus im Norden Indiens einfielen. Aus ihrer Heimat brachten sie die klassische Sprache Sanskrit und die Veden mit, die ältesten Schriften der Hindus. Sie unterjochten die ansässige Bevölkerung und nutzten ihre Arbeitskraft. Um sich von ihnen abzugrenzen, behandelten die Eroberer die Ureinwohner als „Unberührbare“, die nicht zur hinduistischen Kastengesellschaft gehören.

Deren Nachfahren bezeichnen sich heute als „Dalits“, die Gebrochenen. Ein Teil der ursprünglichen Bevölkerung entzog sich jedoch der Unterdrückung durch den Rückzug in bewaldete Bergregionen. Dort konnten sie ihre Lebensweisen pflegen und ihre Kulturen bewahren. Doch seit der britischen Kolonialzeit werden ihre Siedlungsgebiete erschlossen, weil sie wertvolle Ressourcen wie tropische Hölzer, Kohle und andere Mineralien sowie wasserreiche Flüsse bergen. Heute können sich die meisten Adivasi kaum noch dem Einfluss der Mehrheitsbevölkerung entziehen, sie wurden ihrer Wälder und damit ihrer Lebensgrundlagen beraubt.

„Adivasi sind die am stärksten diskriminierte Gruppe der indischen Gesellschaft“, meint der Historiker und Schriftsteller Ramachandra Guha. „Sie haben am wenigsten von der Demokratie und der wirtschaftlichen Entwicklung profitiert und am meisten verloren.“ Die Regierung versucht das auszugleichen, indem sie Adivasi und Dalits Arbeitsplätze in Behörden und öffentlichen Betrieben sowie Ausbildungsplätze in Schulen per Quotensystem reserviert. Ein  Gesetz stellt gewaltsame Übergriffe und Belästigungen gegen Mitglieder beider Gemeinschaften unter besonders schwere Strafen. Die Regierung betreibt Internate für Adivasi-Kinder und bietet in der Trockenzeit Arbeit für einen Mindestlohn an. Nach jahrzehntelangem Kampf gelang es Adivasi und ihren Unterstützern im Jahr 2006, ihre traditionellen Nutzungsrechte an den Wäldern zurückzubekommen, die die britische Kolonialverwaltung abgeschafft hatte.

Autor

Rainer Hörig

ist freier Journalist in Pune (Indien).
Die Zivilgesellschaft engagiert sich ebenfalls für die wirtschaftliche Entwicklung sowie für die Durchsetzung der Bürgerrechte von Adivasi. Die zahlreichen Hilfen konnten Armut und Ausgrenzung jedoch allenfalls mildern. Die jahrhundertealte Diskriminierung besteht fort. Interessenverbände von Dalits und Adivasi klagen, die Gesetze zur Förderung und Nicht-Diskriminierung von Angehörigen beider Gemeinschaften gälten nur auf dem Papier. Gewalttaten gegen Dalits und Adivasi werden häufig nicht einmal registriert, geschweige denn strafrechtlich verfolgt.

Die verbrieften Rechte am Wald müssen Dorfgemeinschaften gegen den zähen Widerstand der Forstverwaltung durchsetzen, häufig über den Umweg von Gerichtsverfahren. Kaum ein Geschäftsmann mag junge Adivasi einstellen, auch wenn sie gut ausgebildet sind. An den Schaltstellen der Gesellschaft sind sie kaum vertreten: Unter Richtern, Lehrern und Professoren, bei Unternehmerverbänden und in wichtigen Behörden muss man Adivasi beziehungsweise Dalits mit der Lupe suchen.

Auch die Adivasi-Akademie in Tejgadh ist den Regeln des Kastensystems unterworfen. Ihrem Gründervater Ganesh Devy ist es daher nicht gelungen, das Projekt in die Hände der Adivasi zu überführen. Mittelständische Hindus treffen die Entscheidungen, Adivasi können bestenfalls mitbestimmen. Beim Unterricht sitzen die Lehrer auf Stühlen, während die Schüler auf dem Boden Platz nehmen. Ganesh Devy hegt die Hoffnung, traditionelle Hierarchien könnten in der Zukunft überwunden werden. Der Weg einer nicht nachhaltigen Entwicklung, dem große Teile der Menschheit folgen, werde zwangsläufig zu der Erkenntnis führen, dass der Lebensstil der Adivasi der einzig richtige ist. „Wenn unsere Städte unbewohnbar werden, müssen wir uns damit beschäftigen, wie man sich gemeinsam engagiert, wie man Dinge mit wenig Geld bewegt, ein genügsames Leben führt, das weniger Ressourcen braucht,“ sagt Devy. „Falls die indigenen Gemeinschaften es schaffen, bis dahin zu überdauern, dann werden sie die Trendsetter sein.“

erschienen in Ausgabe 3 / 2017: Indigene Völker: Eingeboren und ausgegrenzt

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