Indien
experimentiert mit erneuerbaren Energiequellen. Netzunabhängige
Solaranlagen sorgen dafür, dass auch in entlegenen Bergdörfern die
Lichter angehen. Unternehmer und Tüftler probieren Biogas-Anlagen und
Strom aus Biomasse aus. Für manche Dorf- und Slumbewohner eröffnen sich
dadurch neue Welten.
Rainer Hörig [1]
Darewadi, das sind rund 40 Haushalte am Ende der Welt. Hier baut Nanubai Borade zusammen mit ihrem Mann Balasaheb Reis und Hülsenfrüchte an. Wer sie besuchen will, fährt stundenlang über kurvenreiche, schlaglochzerfressene Bergstraßen immer höher hinauf in die Western Ghats-Berge, die das südindische Hochplateau von der Küstenebene am Arabischen Meer trennen. Doch seit vier Monaten ist in Darewadi alles anders als früher.
„Ich hätte mir niemals träumen lassen, wie stark der elektrische Strom
mein Leben verändert“, sagt Nanubai Borade. Am Rand des Dorfes funkeln
neben einem kleinen, schmucklosen Haus vier Reihen bleigrauer
Solarpaneele in der Sonne. Das Gebäude aus rohen Ziegeln beherbergt
einen Stromwandler, automatische Schaltkreise sowie eine große Batterie,
die den Strom für die Nacht speichert. An einem guten Tag liefert die
Anlage 45 Kilowattstunden.
Autor
Rainer Hörig [1]
ist freier Journalist in Pune (Indien).
Errichtet wurde sie von Technikern eines großen deutschen
Elektrokonzerns. Für die Firma ist es eine Art Machbarkeitsstudie, daher
trägt sie auch die gesamten Investitionskosten. Der Bauer Shivaji
Shelke hat das Bauland für das Minikraftwerk gestiftet und bezieht dafür
lebenslang kostenlos Strom. Die indische Start-Up-Firma Gram Oorja, die
auf den Bau netzunabhängiger Kleinkraftwerke spezialisiert ist,
koordiniert das Projekt. Gesamtkosten: 7,5 Millionen indische Rupien,
umgerechnet etwa 90.000 Euro. „Vor vier Monaten haben wir das Kraftwerk
mit einer großen Feier eingeweiht. Meine ganze Verwandtschaft kam, um
sich mit uns zu freuen“, berichtet Nanubai Borade mit leuchtenden Augen.
„Jetzt kann ich schon vor Sonnenaufgang mit meiner Arbeit anfangen und
bin früher fertig. Vor kurzem haben wir einen Fernseher angeschafft, und
unser Mobiltelefon laden wir jetzt zu Hause statt im Nachbardorf.“
Nanubai zeigt stolz auf den Stromzähler an ihrer Haustür und die
LED-Leuchte in der Küche.
„Früher hatten wir nur qualmende Kerosinlampen als Beleuchtung. Die
neuen Lichter sind viel heller und sauberer. Dafür bezahle ich gerne ein
wenig mehr“, erklärt Nanubai. Der Strom kostet etwa doppelt so viel wie
früher Kerosin. Und er bringt sie auf Ideen: „Wir Frauen denken darüber
nach, wie wir mit dem Strom Geld verdienen könnten. Wir könnten abends
Brotfladen formen und backen und sie auf dem Markt verkaufen oder auch
einfache Kleider nähen.“ Für Nanubai und ihre Nachbarinnen öffnen sich
neue Welten.
Das Stichwort Erneuerbare Energien ruft Bilder von teuren
Windkraftanlagen und großen Solarparks wach. Erfolgreiche Experimente in
Indien zeigen jedoch, dass High-Tech, wenn es an lokale und soziale
Gegebenheiten angepasst wird, auch den Armen das Leben erleichtern kann.
Immer neue Anwendungen werden hier ausprobiert, viele von ihnen
bewähren sich.
Biogasanlagen schonen die Wälder
In den Slums der High-Tech-Metropole Bangalore ersetzen solargespeiste
LED-Leuchten zunehmend die rauchenden Petroleumlampen. Kleine,
netzunabhängige Solarkraftwerke versorgen Inseln oder entlegene
Bergdörfer wie Darewadi mit Strom. Kleinbäuerliche Biogasanlagen
entlasten die Dorffrauen vom Brennholzsammeln und schonen die Wälder.
Innovative Tüftler, engagierte Fachleute und Regierungsprogramme stellen
Geld bereit und machen die moderne Energie auch den Armen zugänglich.
Rückschläge sind dabei unvermeidlich. So scheiterte etwa ein
Regierungsprogramm zum Anbau von Jatropha zur Gewinnung von Biodiesel am
Widerstand vieler Dorfgemeinschaften, die für ihr Land dringendere
Verwendung haben. Doch das schreckt Entwicklungsplaner und innovative
Firmen nicht ab bei ihren Versuchen, umweltschonend Energie zu gewinnen.
Denn Indien hat einen schier unersättlichen Energiehunger. Die
staatlichen Elektrizitätsgesellschaften sind nicht in der Lage, den
wachsenden Bedarf zu decken – Stromabschaltungen sind überall an der
Tagesordnung. Auf dem Land wird routinemäßig nur sechs Stunden am Tag
Strom geliefert, mehr steht nicht zur Verfügung. Dabei sind mehr als
vierzig Prozent aller Haushalte noch gar nicht ans Netz angeschlossen,
verbrauchen also keine einzige Wattstunde. 35.000 Dörfer warten dringend
auf einen Anschluss.
Zum Jahresbeginn 2013 liegt die Stromerzeugerkapazität in Indien bei
210.000 Megawatt, etwa ein Viertel höher als die deutsche. Mehr als die
Hälfte des Stroms wird über das Verbrennen von Kohle, Öl und Gas
gewonnen, ein Viertel steuern große Wasserkraftwerke bei. Atomkraftwerke
liefern drei Prozent und rund zwölf Prozent des Stroms stammen aus
erneuerbaren Quellen.

Damit die indische Wirtschaft weiterhin rasch wachsen kann, sollen nach
dem Willen der Regierung in den kommenden zehn Jahren neue Kraftwerke
mit einer Kapazität von 100.000 Megawatt entstehen, die meisten
Verbrennungskraftwerke auf Kohlebasis. In den bergigen Dschungelregionen
des östlichen Zentralindien, den Siedlungsgebieten vieler Ureinwohner,
werden neue Kohlegruben ausgehoben. An den fruchtbaren Küsten sollen
Atomkraftwerke und moderne Kohlekraftwerke gebaut werden, die mit Kohle
aus Übersee befeuert werden. Im Himalaya sind Dutzende großer Staudämme
im Bau, mehrere Hundert weitere sind geplant.
Doch an vielen Orten regt sich Protest gegen derartige Großprojekte,
weil Tausende Bauern um ihr Land, das Wasser und reine Luft fürchten,
die ihre Lebensgrundlagen garantieren. Auseinandersetzungen mit der
Polizei führen häufig zu Verletzten, bisweilen auch zu Toten.
Die erneuerbaren Energien sind trotz einzelner Proteste gegen
Windkraftanlagen weithin akzeptiert. Das hohe Stromdefizit veranlasste
die Regierung bereits 1992, ein Ministerium für Neue und Erneuerbare
Energien zu gründen. Dessen Beamte haben zahlreiche Förderprogramme
entwickelt, die neuen Energieformen einen Weg in den Markt ebnen:
Betreibern von Wind- und Solarkraftwerken wird, ähnlich wie in
Deutschland, ein hoher Abnahmepreis für fünfzehn und mehr Jahre
garantiert. Für erneuerbare Energieprojekte gelten verminderte Zölle und
Abgaben. Abteilungsleiter Ajay Mathur wirft einen Blick in die Zukunft:
„Ich schätze, dass sich der Energieverbrauch in Indien in den kommenden
zehn Jahren verdoppeln wird. Das stetige Wachstum der erneuerbaren
Energien ist ein wichtiger Pfeiler unserer Strategie.“
Erneuerbare Energien sollen die Energiesicherheit erhöhen
Schon jetzt nimmt Indien eine Spitzenposition bei der Nutzung
erneuerbarer Energien ein. Das Land ist der viertgrößte
Windstromproduzent der Welt. Mehr als vier Millionen Biogasanlagen
liefern umweltfreundliche Energie in ländlichen Haushalten, mindestens
ebenso viele Solarheizer auf Hausdächern bereiten heißes Wasser vor. Die
von der Regierung im Rahmen ihrer Klimapolitik verabschiedete
„Solar-Mission“ soll die Kapazität für Solarstrom von heute rund einem
auf mehr als zwanzig Gigawatt im Jahr 2022 steigern. Dabei stellt der
Klimaschutz längst nicht die einzige Motivation für die Förderung der
neuen Energien dar.
Der Umweltschützer Chandra Bhushan etwa meint, die Erneuerbaren
unterstützten Indien auch dabei, seine Unabhängigkeit zu wahren. „Indien
baut die Nutzung erneuerbarer Energien aus, weil sie die
Energiesicherheit erhöhen, nicht weil sie das Klima schonen“, sagt er.
Indien besitze kaum eigene Öl- oder Gasvorkommen. Viele Kohlevorkommen
lagerten unter wertvollen Wäldern, die unter Naturschutz stehen.
Viele verlassen sich nicht auf die Regierung, sondern nehmen die
Verbreitung neuer Energietechnologien selbst in die Hand. Harish Hande,
ein jugendlich wirkender Ingenieur, der am amerikanischen Elitecollege
MIT studiert hat und sich als sozial verantwortlicher Unternehmer
betrachtet, verkauft Solarlichter an die Armen. Seine Angebote schneidet
er gezielt auf die Kunden zu: „Ein Tomatenverkäufer braucht
beispielsweise weißes Licht, damit seine Ware attraktiv aussieht, ein
Verkäufer von Kartoffeln bevorzugt dagegen gelbes Licht“, erläutert er.
Bei der Finanzierung greift er den Kunden unter die Arme. Seine Firma
SELCO garantiert bei der Bank für den Kredit, sammelt die Raten ein und
übernimmt die Wartung der Solaranlagen. „Wir kombinieren eine gute
Technologie mit einer attraktiven Finanzierung“, erklärt Hande: „Für
einen Straßenverkäufer organisieren wir einen Bankkredit über fünf
Jahre, dessen Rückzahlung jeden Tag in kleinen Beträgen erfolgt, denn
sein Einkommen fällt auf täglicher Basis an.“ Von einem Bauern dagegen
werde die Rückzahlung nach der Ernte eingefordert und deren Zeitpunkt
hänge davon ab, was er anbaut und wann seine Frucht reift.
Hande rechnet vor, dass die Ratenzahlungen für den Kredit den Kunden
kaum teurer kommen als die Ausgaben für Kerosin, mit dem er bisher seine
Waren beleuchtet. Wenn die Solarlampen nach fünf Jahren abbezahlt sind,
erhalte der Kunde das Licht umsonst. Auf diese Weise hat SELCO bereits
160.000 armen Haushalten in Bangalore und Umgebung zu einer sauberen
Beleuchtung verholfen. Das Unternehmen beschäftigt 191 Mitarbeiter und
erwirtschaftet einen Jahresumsatz von umgerechnet drei Millionen Euro.
Den Gewinn von mehr als 100.000 Euro steckt Harish Hande nach eigenen
Angaben in die Entwicklung neuer Produkte.
„Die Inhaber kleiner Geschäfte konnten ihr Einkommen mit
Solarbeleuchtung um zehn bis fünfzehn Prozent steigern, weil sie länger
geöffnet halten können und weil helles Licht Kunden anzieht“, erklärt
Hande, der für sein soziales Engagement 2009 mit dem Magsaysay-Award,
dem sogenannten asiatischen Nobelpreis, ausgezeichnet worden ist.
Längst nicht alle Experimente sind erfolgreich
Indien ist ein großes Experimentierfeld für die Anwendung moderner
Energietechniken. Wie das kleine Solarkraftwerk in Darewadi zeigt,
probieren hier auch deutsche Firmen neue Wege aus. Deutsche
Organisationen wie die Andheri-Hilfe oder Green Energy Against Poverty
setzen erneuerbare Energien in der Entwicklungszusammenarbeit ein. Eine
mittelständische Firma aus Gujarat mit Wurzeln in Berlin installiert
solarthermische Dampfgeneratoren für Großverbraucher wie Tempelküchen
oder Krankenhäuser – mehr als 50 solcher Anlagen arbeiten bereits.
Aber längst nicht alle dieser Experimente sind erfolgreich. So mussten
in Nordindien eine Reihe neuer Kleinkraftwerke nach kurzer Betriebszeit
wieder schließen, weil ihr Rohstoff, Reisspelzen und andere
Ernteabfälle, aufgrund der gestiegenen Nachfrage immer teurer wurde. Ein
Bericht des bürgerorientierten Energie-Instituts Prayas, der neue
Literatur zu netzunabhängigen Kraftwerken auswertet, weist auf Mängel
hin, die häufig zum Ausfall der High-Tech-Anlagen führen: falsches
Design, fehlende Wartung, mangelnde Regulierung durch die
Aufsichtsbehörden.
Anshuman Lathe, dessen Firma Gram Oorja für das Sonnenkraftwerk in
Darewadi verantwortlich zeichnet, ist jedoch zuversichtlich, dass die
Anlage den Dorfbewohnern langfristig nutzt. Sein Erfolgsrezept lautet
Beteiligung: Seine Firma habe die Dorfbewohner ermutigt, an dem
Experiment teilzunehmen, und ihnen neues Wissen vermittelt, erzählt er.
„Und wir stellten Bedingungen: Ihr müsst einen Verein gründen, der das
Kraftwerk beaufsichtigt, darin müssen auf jeden Fall Frauen vertreten
sein, und ihr müsst Land für das Kraftwerk zur Verfügung stellen.“ Erst
nach der Gründung des Vereins begannen die Bauarbeiten.